Die Geister, die mich riefen: Deutschlands bekanntester Spukforscher erzählt (German Edition)
neuen Blick auf ihre Umgebung zu werfen. Sie wollen genau hinschauen, wann und wie die außergewöhnlichen Erlebnisse passieren. Wenn eine Zeit lang die Türen von allein aufgegangen sind, versuchen sie natürlich, die Türen im Auge zu behalten. Wenn sie sich hinstellen und stur beobachten, passiert aber nichts. Der Spuk entzieht sich der Beobachtung. Dann geschieht etwas anderes: Ganz plötzlich und unerwartet springen die Fenster auf. Das, was man erwartet, geschieht meistens nicht. Zu allem Überfluss bekommt der Spuk noch schabernackartige Züge. Die Dynamik des Systems verändert sich. Die Leute geraten ins Grübeln, und sie denken: Hier stimmt etwas ganz und gar nicht. Sie denken an den Teufel oder an Dämonen, weil sie das Phänomen nicht einordnen können.
Hans Bender berichtete von einem Feuerwehrmann, der während eines Spukfalls die ganze Zeit in der Küche saß und eine Stelle am Boden beobachtete, weil sich dort immer wieder aus dem Nichts Wasserlachen bildeten. Er wollte endlich sehen, wie es dazu kommen konnte. Aber nichts geschah. Dann rief ihm ein Kollege aus dem Flur etwas zu. Er drehte den Kopf weg, und als er wieder hinsah – war da eine Wasserlache. Der Spuk verändert immer wieder seine Aussage, weil er vor allem eines will: Er will eine Botschaft von der Fokusperson übermitteln.
In der Verschiebungsphase ist der Spuk dramatisch und vielfältig. Man entdeckt immer neue Phänomene und ist verblüfft. Bilder fallen von der Wand, Möbel fallen um. Doch das alles geschieht nur, das stellt man dann fest, wenn die Fokusperson zugegen ist. Angelehnt an den berühmten Spukfall von Rosenheim, den Hans Bender untersuchte, nennen wir sie im Modell einfach Annemarie. Immer wenn Annemarie da ist, passieren die tollsten Sachen. Gleichzeitig ist sie die Einzige, die keine Angst hat. Sie scheint zu ahnen, was vor sich geht. Alle schauen ihr auf die Finger. Zum ersten Mal taucht der Verdacht auf, Annemarie könnte übernatürliche Fähigkeiten haben. Die Ersten bitten sie, den Spuk auf Kommando zu reproduzieren. Sie soll zeigen, wie der Teufel durch sie wirkt.
Nun ist die Botschaft des Spuks angekommen. Die Fokusperson ist identifiziert. Es geht um Annemarie. Sie scheint ein Problem zu haben, das sich nach außen hin zeigt. Vielleicht hat sie in der Schule Probleme und traut sich nicht, es jemandem zu sagen? Vielleicht wird sie gemobbt und es geht ihr schlecht? Sie ist verschüchtert. Sie erkennt wahrscheinlich gar nicht, wie sehr die Probleme ihr zusetzen. Sonst würde es ja gar nicht spuken. Der Spuk ist ihre psychosomatische Reaktion, die sich in ihrer Umgebung auswirkt. Das aber wissen die Leute natürlich nicht. Die denken, sie sei übersinnlich. Sie üben Druck auf sie aus und erwarten, dass sie das tut, was unmöglich ist: Sie soll den Spuk wiederholen. Auf Kommando.
In diesem Moment beginnt die »Absinkungsphase«. Der Spuk verschwindet nach und nach, weil er seine Schuldigkeit getan hat. Wenn der Spuk weitreichend war, sind nun vielleicht Journalisten vor Ort, die etwas sehen wollen. Besucher kommen und erwarten, fliegende Steine zu sehen. Doch es tut sich nichts mehr. Deswegen ist die Absinkungsphase den Betroffenen umso peinlicher. Sie können nichts vorweisen und werden umso mehr für verrückt gehalten.
In der vierten Phase rächt sich die Gesellschaft. Annemarie wird für verrückt erklärt. Sie habe sich wohl wichtig machen wollen, heißt es. Es wirkt so, als habe sie die Öffentlichkeit mit ihrem Spuk hinters Licht geführt. Deswegen nenne ich die vierte Phase die »Verdrängungsphase«. Es geht jetzt nicht mehr um den Spuk, es geht allein um Annemarie, die als Schwindlerin stigmatisiert werden soll. Diese Phase dient dazu, den Spuk wieder auszumerzen. Die Anomalie wird aussortiert. Idealerweise sprechen wir von der Beratungsstelle mit den Menschen, bevor der Spuk seine Funktion erfüllt hat – noch vor der dritten Phase, noch bevor die Betreffenden durch das Unverständnis der Gesellschaft stigmatisiert werden.
Was ich den Betroffenen meistens nicht erzähle, weil es zu kompliziert wäre, ist die Tatsache, dass es sich bei dem Spukmodell keineswegs nur um ein phänomenologisches Modell handelt, das den Spuk bloß beschreibt. Die Ergebnisse, die wir bei unseren Experimenten bekommen haben, machen deutlich, warum der Spuk so eigentümlich ausweichend ist und warum man eher frustriert als fasziniert ist, wenn man Spukfälle untersucht.
Weil Psychokinese keine Kraft ist und sie sich
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