Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
ihn noch einmal ansprach: »Da ist noch etwas«, sagte er. »Ich gehe davon aus, dass Conchita hier ist, oder?«
»Ja, Señor. Sie ist schon vor zwei Tagen gekommen, sie hat Ihre Mutter begleitet.«
»Sag ihr, dass sie zu mir ins Kabinett kommen soll.«
Juliáns Stimme klang bei seiner Antwort beunruhigt, als könne er den neuen Lauf der Dinge nicht akzeptieren.
»Ins Kabinett von Señor Lax?«
»Aber selbstverständlich, Julián. Ich bin jetzt der Señor Lax.«
Amadeo schleppte sich müde die Treppe hoch. Vom Flur aus warf er einen flüchtigen Blick in den Salon, nur um sich zu vergewissern, dass alles noch an Ort und Stelle war. Freudig nahm er das bekannte Knarren seiner Schritte auf dem Weg zu den Räumen wahr, die zur Straße zeigten. Er legte eine Hand auf die Türklinke. Einen Augenblick lang schien ihm, als würde er gleich Don Rodolfo in seinem Lehnstuhl gegenüberstehen, der über der Verwendung einer neuen Erfindung grübelte oder das Vorgehen eines Politikers kritisierte. Aber dem war nicht so. Als Amadeo dessen Platz einnahm, überfiel ihn einen Moment lang ein Zweifel, eine Schwäche, die nicht zu einem so stolzen Menschen wie ihm passte. Das Schreiben der Mutter Oberin flößte ihm wieder Kraft ein. Er schlitzte den Umschlag mit dem silbernen Brieföffner auf und betrachtete die hübsche Schrift. Der Brief trug das Datum 1. August. Im Briefkopf befand sich ein Kreuz aus zwei Strichen und vermittelte dem Schreiben seinen Segen. Sehr geehrter Señor Lax , so begann der Brief. Der Lax-Erbe erwartete keinen großen Gewinn aus einem Schreiben mit einem so uninspirierten Anfang, aber er las dennoch weiter.
Gestatten Sie mir, Ihnen mein Beileid anlässlich des Ablebens Ihres Vaters auszusprechen, in dessen großer Schuld meine Klostergemeinschaft der Hieronymitinnen und ich selbst stehen. Ich möchte Ihnen berichten, dass Don Rodolfo in meinen Armen gestorben ist, und zwar als Held und ohne Leid, nachdem er unser Kloster gegen die schändlichen Angriffe der Barbaren verteidigt hat.
Amadeo streifte seine Schuhe ab. Er richtete sich ein wenig auf und las weiter.
Ich weiß es, und Don Rodolfo sagte dies auch in seinem letzten Atemzug: Er ist in der Überzeugung zu uns gekommen, dass wir Nonnen ihn um Hilfe gerufen hätten. Aber ich möchte richtigstellen, dass dies nicht der Fall gewesen ist. Keine von uns hat jemals dieses Billett geschrieben, auf das er so schnell reagiert hat, und zwar einzig und allein aus dem Grund, weil wir es niemals gewagt hätten, das Leben von jemandem zu riskieren, den unsere Gemeinschaft so schätzt. Meiner Meinung nach ist Ihr Vater das Opfer eines Verrats geworden, auch wenn weder er noch ich erfahren haben, wer dahintersteckt.
Zu den Ereignissen: Vor dem Morgengrauen postierte sich ein Haufen Betrunkener, die mit Fackeln und Bajonetten bewaffnet waren, vor unserem Tor. Sie riefen immer wieder: »Nonnen raus! Gleich gibt’s Zunder!« Sie haben uns nicht einmal Zeit gelassen, die Kelche aus der Kirche zu retten. Sie sind einfach eingedrungen und haben alles zerstört und uns hinausgestoßen. Glücklicherweise haben uns gute Menschen im Viertel Zuflucht gewährt. Aus deren Fenstern mussten wir zusehen, wie sie die Holzschnitzereien aus der Kirche rissen und mit Hämmern zerschlugen. Alles, was nur irgendeinen Wert hatte, haben sie geplündert. Sie haben die Räume unseres Heiligen Hauses geschändet, sogar die Krypta! Dort haben sie die Leichname unserer verstorbenen Mitschwestern ausgegraben und dann mitten auf dem Platz mit ihnen getanzt, noch dazu bei einem teuflischen Lärm. Schließlich haben sie sie an die Straßenecken geworfen und ihnen ihre letzte Ehre genommen. Es war ein grausiges Schauspiel, von dem sich einige von uns immer noch nicht erholt haben.
Doch als Ihr Vater eintraf, war der ganze Spuk schon vorbei. Die Kirchenfeinde waren es anscheinend müde geworden, alles zu zerstören. Und wir begannen, Gott dafür zu danken, dass unser Kloster vor den Flammen bewahrt wurde, die andere Klöster zerstört hatten. Da sahen wir Don Rodolfo ankommen. Der Fahrer setzte ihn am Tor ab. Ihr Vater ging vorsichtig hinein, vermutlich weil er erstaunt war, dass alles sperrangelweit offen stand. Hinter ihm sahen wir dann eine Gruppe Terroristen ankommen. Da begriff ich, dass er in einen Hinterhalt geraten war, und beschloss, ihm zu helfen. Ich bekam ein Gewehr geliehen, und glauben Sie mir, dies war meine Rettung, obwohl ich bis dahin so etwas noch nicht einmal aus der Nähe
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