Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
Vom Netzwerk:
gesehen hatte. Es bot mir einen gewissen Schutz, denn Gott sei Dank konnte ich es die ganze Zeit festhalten, und einmal habe ich sogar gewagt zu schießen. Dann bin ich damit ins Kloster hinein, direkt zum Kreuzgang, und dort habe ich auch Ihren Vater entdeckt. Er entriss gerade einem der Gewalttäter das Skelett einer Nonne aus dem 16. Jahrhundert, das dieser soeben ausgegraben hatte. Don Rodolfo versuchte, den Mann zur Vernunft zu bringen, aber der hörte nicht auf ihn. Dann trafen noch weitere Genossen des Übeltäters ein. Sie bedrohten Ihren Vater mit einem Bajonett. Don Rodolfo weigerte sich, das Skelett fallen zu lassen. Ich gab einen Schuss ab, traf aber nur einen von ihnen am Fuß. Dann gab es nur noch ein völliges Chaos und viel Geschrei. Als ich es schließlich bemerkte, war es zu spät: Ihr Vater hatte eine tödliche Verletzung erlitten, und die Frevler waren schon dabei, alles anzuzünden. Es gelang mir, Don Rodolfo auf die Straße zu schleifen, während die Flammen bereits in unserem Kloster loderten. Dort tat ich dann das Einzige, was ich noch ausrichten konnte. Ich versuchte, ihm in seinen letzten Zügen Trost zu spenden. Ich glaube, es ist mir gelungen.
    Amadeo war von dem Heldenmut der Nonne beeindruckt. Er blätterte um und las den Bericht zu Ende.
Danach übten wir nur noch einen Akt der Barmherzigkeit aus. Wir konnten nicht zulassen, dass die Ordnungskräfte den Leichnam Ihres Vaters einfach mitnahmen, als wäre er ein gewöhnlicher Verbrecher. Und wir wollten auch nicht, dass ihn die Hitze dieser Tage vor allen Augen zerstörte. Ich bat meine Cousine, die Mutter Oberin vom Convento de Montesión, um Hilfe. Sie zeigte sich sehr bestürzt über die traurige Nachricht und hat sich sofort darum gekümmert, Don Rodolfo im Kreuzgang ihres Klosters zu beerdigen. Wir Nonnen haben ihm einen schlichten Gottesdienst ausgerichtet, den der Kaplan der Capilla de Santa Madrona hielt – übrigens ein Mönch, der in diesen Tagen auch fliehen und sich verstecken musste. Seit dem 30. Juli also ruht der Leichnam Ihres Vaters in Frieden in gesegneter Erde. Und diese Erde können Sie als seine Familienangehörige jederzeit, ohne dass die Klausur Sie daran hindert, besuchen kommen. Erfreulicherweise hatten die Nonnen des Convento de Montesión mehr Glück als wir, denn ihr Klostergebäude erlitt bei dem Aufstand kaum Schaden. Unsere Mauern hingegen sind völlig zerstört worden.
Nun, da ich meine traurige Pflicht erfüllt habe, Sie über diese tragischen Vorfälle in Kenntnis zu setzen, bleibt mir nur, Ihnen noch einmal mein herzliches Beileid auszudrücken. Ihr Vater ist für uns eine große Stütze gewesen, ein Ratgeber und ein Freund. Wir werden uns gerne bei Ihnen und Ihren Angehörigen für seine Großzügigkeit revanchieren, wenn Sie es einmal für angebracht halten.
Möge Gott uns beistehen und den rechten Weg zeigen.

Mit freundschaftlichen Grüßen,

Ihre Sor Maravillas
    Amadeo war so in die Lektüre vertieft, dass er nicht einmal Concha kommen hörte. Plötzlich blickte er auf und sah seine alte Amme und Kinderfrau auf der Schwelle zum Kabinett stehen, mit feuchten Augen und den Händen an den Wangen.
    »Heilige Jungfrau, du bist ja völlig verändert!«, rief sie aus.
    »Komm rein und mach die Tür zu, bitte«, forderte Amadeo sie auf, während er den Brief der Nonne sorgfältig faltete und zurück in den Umschlag steckte.
    Die ehemalige Kinderfrau war von der Gefasstheit und der Selbstverständlichkeit, mit der Amadeo die Position des Familienoberhauptes übernahm, sehr beeindruckt. Er war erst zwanzig Jahre alt, also etwa so alt wie sie selbst, als sie seinerzeit in die Familie Lax kam, aber aus seiner Miene sprach Selbstsicherheit, und eine spröde Strenge hatte die scheue Haltung des Jünglings ausgelöscht, der er noch vor gar nicht so langer Zeit gewesen war. Mit großer Distanz, die den Abstand durch den Schreibtisch noch übertraf, fragte Amadeo: »Concha, wie geht es dir?«
    Die Frau brach in Tränen aus. Zu viele Stunden hatte sie nun schon mit zugeschnürter Kehle verbracht.
    »Es ist schrecklich«, flüsterte sie und griff nach seiner Hand.
    Amadeo wich weder der Berührung aus, noch erwiderte er ihre zärtliche Geste. Er ließ seine Hand einfach liegen und sagte nur: »Erzähl.«
    »Wir haben deinen Vater am Sonntag zum letzten Mal gesehen. Er ist vor der Abenddämmerung nach Barcelona zurückgefahren, um sich um seine Geschäfte zu kümmern, wie jede Woche. Bis Mittwoch haben wir gar

Weitere Kostenlose Bücher