Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
zurückziehen konnte. Das Haus roch nach Kirche, die Buben sahen wie bedrückte Ministranten aus, die Tante gebärdete sich wie eine Gipsheilige, und das Personal hielt sich unerbittlich an ein Schweigegelübde.
An Freiheiten gewöhnt, die nach Rum und Kaffee dufteten, und darüber hinaus an den Anblick von zwanzigjährigen Mulattinnen, hielt Don Casimiro diesen Zustand nicht einmal eine Woche lang aus. Die frömmlerische Tante, die sehr wohl die Schwächen des Fleisches ihres angeheirateten Neffen kannte, nutzte die Situation und drohte damit, das Haus zu verlassen, wenn sie für ihre Arbeit keine angemessene Anerkennung erhielt. Nur noch die Flucht vor Augen, gab der Millionär, der schon immer ein Feigling gewesen war, den Drohungen der habgierigen Alten nach und ging mit ihr in einer Zeremonie die Ehe ein, die er aus Scham geheim hielt. Nach Erledigung der Formalitäten küsste er seine Kinder in chronologischer Reihenfolge und nahm den Dampfer Príncipe de Asturias mit Ziel Argentinien.
Don Casimiro hätte wissen müssen, dass der kronprinzliche Name des Schiffs ein schlechtes Omen bedeutete, auch wenn dies tatsächlich keiner seiner tausendneunhundert Passagiere ahnen konnte. Zwei Wochen nach seiner Abfahrt aus dem Hafen von Barcelona, als er gerade vor der Küste von Brasilien unterwegs war, stieß der Überseedampfer auf ein unsichtbares Riff und ging in weniger als zehn Minuten unter. Dies erzählten zumindest die etwa hundertvierzig Überlebenden in ihren wenn auch nicht ganz übereinstimmenden Berichten. Die Geschwister Brusés im Alter von sechs Monaten bis sechzehn Jahren waren nun Vollwaisen und der Betreuung durch eine Stiefmutter ausgeliefert, die fünfundsiebzig Herbste zählte.
Die Hölle dieser armen Kinder dauerte über ein Jahrzehnt, die Zeit, die vergehen musste, bis die Alte starb. In diesen Jahren hatte die zweite Señora de Brusés ausreichend Zeit, um berufliche Pläne zunichte zu machen, Ehen zu zerstören, Träume zum Platzen zu bringen, einige der Stiefkinder zu enterben und alle aus dem Haus zu werfen, die sich ihren Vorstellungen widersetzten. Folglich waren die Geschwister in einer Art Diaspora verstreut, nachdem es ihnen zumindest gelungen war, den ihnen zustehenden Anteil am Erbe ihres Vaters einzuklagen. Keiner von ihnen führte das Familienunternehmen weiter, das schon bald nicht mehr die gewohnten beträchtlichen Gewinne abwarf und später bankrottging. Somit bildete Tante Matilde auch bei dieser für Barcelona so typischen Tradition eine Ausnahme, nach der ein Unternehmen vom Vater gegründet, vom Sohn vergrößert und vom Enkel in den Ruin getrieben wird.
Nach dieser Vorgeschichte ist es kein Wunder, dass es den Geschwistern schwerfiel, ihre Freude über das Ableben der Stiefmutter zu verbergen. Der Pfarrer musste sogar der Eile Einhalt gebieten, mit der sie sie bestatten wollten, indem er ihnen erklärte, dass Gott Zeit benötigte, um eine seiner besonders glaubensfesten Töchter so in seinen Schoß aufnehmen zu können, wie es sich gebührt.
Als die verhasste Frömmlerin endlich unter der Erde lag, folgte zunächst eine Phase der ungeduldigen Verstellung. Der Tratsch ging los, als die zwei älteren Brüder noch vor Ablauf der Trauerzeit zwei junge Mädchen aus bekannten Familien heirateten, wieder den alten Familiensitz bewohnten und damit begannen, eine Festivität nach der anderen auszurichten und sich zugleich um die Erziehung der vier jüngeren Schwestern zu kümmern.
»Schlechte Vorbilder für ehrenwerte junge Damen …«, monierten die bösen Zungen.
So wie nach einem zu langen und zu kalten Winter kam in der Familie Brusés der Beginn dieser neuen Jahreszeit einer Explosion gleich. Die Geschwister waren so begierig, sich zu amüsieren, dass sie weniger strenge Gewohnheiten einführten, eine neue Schneiderin suchten, mehr Personal einstellten, sämtliche Räume neu gestalteten, Tanzvergnügen, Konzerte, Auftritte und Empfänge ausrichteten. Sie bemühten sich so eifrig, die Regeln des Ancien Régime abzuschaffen, dass sie dabei beinahe die Ehre der heiratsfähigen Mädchen riskiert hätten. Der Familienname Brusés rief nun außer Neid noch Neugierde hervor. Der Cadillac der Familie, der von einem Fahrer in Livree gesteuert wurde, hielt oft vor den Türen exklusiver Restaurants wie dem Justin oder dem Maison Dorée. Die dritte Schwester, von allen Tatín genannt – dabei trug sie den Taufnamen María Auxiliadora –, bewegte sich in Künstlerkreisen, kleidete
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