Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
verlieren an die Arbeit. Die beiden Männer helfen ihm, das Material herbeizubringen, und assistieren, während er alles, was er benötigt, aus einer Tasche nimmt. Dann erkundigt sich der Restaurator, wo er Wasser holen kann, um den Leim vorzubereiten, und der Beamte, der diese Frage wie so vieles andere auch nicht vorhergesehen hat, blickt hilflos zu Arcadio.
»Unten, im Dienstbotenbereich, gibt es einen Brunnen«, erklärt Arcadio. »Geben Sie mir den Eimer, ich werde ihn mit Wasser füllen.«
Weder Violeta noch Arcadio möchten jemanden bei der Arbeit überwachen. Sie lassen den Restaurator den Leim vorbereiten und verabschieden sich.
»Ich habe noch zu tun«, entschuldigt sich Violeta.
Der Einzige, der bleibt, ist der junge Beamte – man weiß nicht, ob aus Pflichtgefühl oder aus Interesse.
»Ich trage heute den Leim auf«, erläutert der Restaurator. »In ein paar Tagen, wenn alles durchgetrocknet ist, können wir das Bild abnehmen.«
Violeta und Arcadio steigen die Treppe hinab. Erst als sie an der Haustür ankommen, fragt sie, ob der Restaurator gut ist.
»Er genießt mein absolutes Vertrauen. Mach dir keine Sorgen.«
»Das freut mich«, antwortet sie. »Noch mehr Pfusch haben wir wirklich nicht verdient.«
Il falso ricordo (Die falsche Erinnerung), 1962
Öl auf Leinwand, 280 × 255 cm
Museo Thyssen-Bornemisza, Ständige Sammlung, Madrid
Die erste Frage wirft bei diesem Gemälde der Titel auf. Der Betrachter fragt sich zwangsläufig, was »die falsche Erinnerung« ist. Das Modell? Die schroffe Sinnlichkeit, die die Frau ausstrahlt? Ihre Jugend? Es ist weder bekannt, welche Frau für dieses Porträt Modell saß, noch welche Beziehung sie mit dem Künstler verband. Die große Bedeutung des Bildes liegt jedoch darin, dass Lax hier zum einzigen Mal sein großes Tabu brach: den weiblichen Akt. Daher rührt der absolute Seltenheitswert des Porträts, das der Künstler womöglich für sich selbst oder für die Frau auf dem Bild gemalt hat. Baron Heinrich Thyssen-Bornemisza erwarb 1972 das Gemälde direkt vom Maler, um es in seinem Wohnsitz in London zu präsentieren. 1988 ging es in die Bestände des späteren Museo Thyssen-Bornemisza über.
Besonders auffällig ist bei diesem Porträt die Gestaltung des Lichts, das die weibliche Figur betont, die an die idealisierten Aktgemälde der deutschen Symbolisten erinnert, sowie die überwältigende Ausdruckskraft des Modells, das ein vitales Abbild sexueller Begierde darstellt. Bemerkenswert ist zudem, dass der Maler seine kühne »Erinnerung« auf einem ähnlich prächtigen Lehnsessel präsentiert wie seinerzeit Velázquez den Papst Innozenz X. Vielleicht wollte Lax mit diesem verweisreichen Spiel den Charakter des Modells oder die Intention des Blickes betonen; möglicherweise ist es auch als Hommage an den Meister des spanischen Barock zu bewerten, der ihn so stark beeinflusst hat, oder auch als verhohlene Kritik am Klerus; diesbezüglich kursieren mancherlei Spekulationen. Ein Experte hat darauf hingewiesen, dass der Titel auf eben diesen Dialog der Gemälde anspielt, so als ginge es dem Künstler in seiner kreativen Erinnerung darum, die »klassischen« Porträts immer wieder neu zu deuten. Doch es gibt keine einheitliche These, und Amadeo Lax ist leider verstorben, ohne seine ästhetischen Absichten schriftlich zu hinterlegen.
Das Museo Thyssen-Bornemisza in der Tasche. Ein Rundgang zu den Meisterwerken der Privatsammlung von Heini Thyssen , Madrid 2002 (Ediciones del Museo)
V
Von den hochkarätigen Familien, deren Angehörige sich in jenen letzten Jahren des 19. Jahrhunderts täglich auf den Ramblas zur Promenade einfanden, zog eine einhellig Bewunderung und Neid auf sich: die Familie Brusés. Don Casimiro war ein reicher Stoffhändler, der sich bei gesellschaftlichen Anlässen nur äußerst selten sehen ließ. Seine häufigen Geschäftsreisen boten ihm die perfekte Ausrede, sich von solchem Treiben fern zu halten, und wenn er einmal zu Hause weilte, war sein Bedürfnis nach Ruhe so groß, dass er sich auf jeden Fall abseits hielt. Es hieß, dass er allein für die Zeitungslektüre jeden Tag mehr als drei Stunden aufbrachte. Selbstverständlich las er El Diario de Barcelona , die Tageszeitung, die am besten das Informationsbedürfnis der Unternehmer der Stadt bediente, die ihrerseits aus ihrer Lektüre eine sorgfältige, beruflich unabdingbare Studie machten.
Seine Gattin Doña Silvia Bessa de Brusés war eine sittenstrenge Dame, äußerst
Weitere Kostenlose Bücher