Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
noch schlimmer, die einen Raum, den das elektrische Licht erobert hatte, gar nicht erst betraten. Deshalb übernahm es Doña Maria del Roser höchstpersönlich, bei der ersten Dämmerung im neuen Haus die Erfindung in allen Details vorzuführen. Man hatte zu diesem Anlass das komplette Personal zusammengerufen, und alle gaben begeisterte »Aaaaahs« und »Ooooohs« von sich, alle, außer Juanita, der Köchin, die angesichts solch moderner Errungenschaften immer schlechte Laune bekam.
»Ach, das sind doch nur Spielereien für reiche Leute!«, brummte sie. »Wenn unser lieber Herrgott die Nacht über die Welt ausbreitet, wie kommen wir Menschen dann dazu, ihm eine Festbeleuchtung anzuknipsen?«
Vor dem großen Umzug gestaltete sich das Leben im alten Haus, wo nichts mehr an seinem Platz war, zu einem Provisorium. Nicht einmal die übliche Reinlichkeit wurde beibehalten, denn das Personal war von dem entschlossenen Geist der Hausherrin infiziert, die unzählige Male ihre Meinung vorbrachte, dass nicht eine Minute für das Putzen von Dingen vergeudet werden sollte, die ohnehin weggeworfen würden.
Und das war keine Metapher: Die städtischen Politiker, die große Stücke auf Don Rodolfo hielten, hatten entschieden, an der Stelle, wo es zuvor nur ein Labyrinth von engen, düsteren Gassen gab, in denen alte Paläste und ehrwürdige Kirchen das Straßenbild prägten, eine breite Avenida zu errichten, der sie in Ermangelung einer besseren Alternative den nicht sonderlich inspirierten Namen »Gran Vía A« – »Große Straße A« – verpassten. Diese neue Straße von pharaonischen Ausmaßen stellte eine gerade Verbindung zwischen dem Meer und der Plaza Urquinaona dar, die im rechten Winkel von zwei großen Verkehrsadern gekreuzt wurde. Die erste entstand als Erweiterung der bereits bestehenden Calle Princesa, und die zweite, die vorläufig nur »Vía C« genannt wurde, sollte bis zur Kathedrale führen. Zudem entstanden noch zahlreiche, nicht ganz so breite, aber völlig neue Straßen, die aus diesem Viertel eine ganz andere Stadt machen sollten. Das Haus der Familie Lax lag rechts der neuen Avenida, mehr oder weniger an der Stelle der »Vía C«, dort, wo heute nur noch Großstadtverkehr und lautes Hupen herrschen. Sein Abriss machte nicht anderen Gebäuden Platz, sondern einem breiten Weg Richtung Kathedrale, der das Viertel in ein kurioses Karree einteilte. Die Enteignungen betrafen zweitausend Häuser und führten zu einer entsprechenden Protestwelle. Doch die Verantwortlichen ließen sich durch nichts von ihren Plänen abbringen.
Rodolfo Lax konnte all dies nachvollziehen.
»Die Leute mögen den Fortschritt einfach nicht«, sagte er. »Wenn alle Erneuerer auf der Welt auf die Proteste ihrer Mitbürger eingegangen wären, würden wir immer noch Bisons an Höhlenwände kritzeln.«
Ihm hingegen verursachten die Veränderungen einen angenehmen Magenkitzel. Er selbst kam richtig in Fahrt, wenn er von der Geschwindigkeit sprach, mit der die Räumgeräte »dieses Labyrinth ungesunder Steine« erledigten. Er trug dazu bei, die kritischsten Geister zu besänftigen, denn mit seiner Unterstützung wurde manch mittelalterlicher Palast und mehr als ein Kloster Stein für Stein umgezogen, auch wenn man ihn zu Hause sagen hörte: »Meine Güte, die Äbtissinnen werden ganz schön zickig, wenn es um ihre Kreuzgänge geht!«
Rodolfo Lax hatte krebsrote Wangen, eine dröhnende Stimme, und er lachte gerne. Er gehörte zu der Sorte Männer, die in Cut und Zylinder immer verkleidet aussahen, so als wäre sein Körper dazu gemacht, den weiten Kittel und die Bauchbinde der Bauern zu tragen. Seine Füße schienen besser für den freien Gang in Espadrillen geeignet und konnten sich niemals an harte Lederschuhe gewöhnen. Er war der einzige Sohn einer reichen Händlerfamilie aus Vic, der dem Unternehmen, das ihm als Erbe und aus Tradition zustand, wenig zugeneigt, aber so ehrgeizig war, dass er, als er mit fünfundzwanzig Jahren Vollwaise wurde, kurzerhand seinen Besitz verkaufte und nach Barcelona ging. Dort lebten zwei entfernte, ledige Tanten verängstigt in einem viel zu großen Haus, das mangels direkter Erben über kurz oder lang ohnehin ihm zufallen würde. Rodolfo Lax machte sich auf den Weg, stellte sich den Tanten vor und war ihnen auf Anhieb sympathisch. Von da an begann sein Aufstieg.
In diesen Jahren vor der Weltausstellung 1888 bildete die Stadt in ihrer urbanistischen Blüte einen fruchtbaren Boden für rastlose
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