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Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
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11. März 2010
An: Valérie Rahal
Betreff: Lebenszeichen

Liebe Mama,

ich kann mir vorstellen, dass du ein wenig verärgert bist, weil ich dir seit Ewigkeiten nichts mehr erzählt habe. Aber, bitte, heb dir deine Vorwürfe für meine Rückkehr auf, denn es ist wirklich etwas Schlimmes passiert. Deshalb habe ich gestern um Papas Telefonnummer gebeten, und ich habe auch schon mit ihm gesprochen. Ich glaube, jeder von uns war wie versteinert, als er die Stimme des anderen hörte. Ich habe ihn auf Bitte der Polizei hin angerufen. Bekomm keinen Schreck, Mama: Dein Exmann ist zwar eine Katastrophe, aber er hat niemanden umgebracht. Sie müssen ihm nur eine DNA-Probe entnehmen. Und mir auch.
Also, schön der Reihe nach, auch wenn ich wenig Zeit habe. Ich habe mich soeben Arcadios Rechner bemächtigt (Schöne Grüße!!!), und der Ordner mit Mails, die er beantworten muss, ist schon randvoll. Du wirst es nicht glauben, aber der Schnee, der hier vor zwei Tagen gefallen ist, hat in vielen Gebieten die Stromversorgung unterbrochen und die Stadt unerreichbar gemacht. Deshalb hat mir Arcadio Asyl gewährt: Denn meine Wohnung gleicht der Antarktis. Seine auch, aber sie ist wenigstens sauber. Ich weiß, das Ganze ist unglaublich, aber irgendwann erzähle ich dir alles haargenau. Ich stelle mir nur noch das Gelächter meiner Freunde in Chicago vor, wenn sie erfahren, dass in Barcelona Schnee gefallen ist, was gleich zu so einem Kollaps führt. Meine Güte, wir sind es doch gewohnt, noch bei minus dreißig Grad vor die Tür zu gehen und Schnee zu schippen. Also.
Ich fange mit der Neuigkeit an, die mich nach wie vor völlig schockiert. Gestern wurde das Fresko mit Teresa von der Wand im Patio abgenommen. Theoretisch sollten morgen die Restaurierungsarbeiten in dem Haus beginnen. Ich schreibe »theoretisch«, denn plötzlich ist es zu einer Planänderung gekommen. Als der Restaurator das Porträt abnahm – übrigens mit einer unglaublichen Fachkenntnis –, entdeckte er dahinter in der Wand eine Tür. Das war früher wohl einmal eine Abstellkammer oder eine Besenkammer oder so etwas. Und darin lag eine Tote. Komplett mumifiziert, aber bekleidet, die Schuhe und die Haare noch an Ort und Stelle. Ich war erst dabei, als die Polizei kam. Sie haben die Zeugen befragt, den Patio abgesperrt, dann kamen die Spurensicherung, der Gerichtsmediziner, die Richterin und noch eine ganze Invasion von Fremden. Sie stellten uns Fragen, auf die keiner von uns richtig antworten konnte: Wer war die Mumie? Wann ist zum letzten Mal jemand im Haus gewesen? Ich habe ihnen von Anfang an gesagt: »Ich bin zwar ein Familienmitglied und weiß viele Dinge über die Menschen, die in dem Haus gelebt haben, aber ich habe nicht eine Information aus erster Hand. Für mich ist diese Familiengeschichte wie ein Gespensterroman.«
Aber, Mama, ich bin nicht ganz ehrlich gewesen.
Es stimmt zwar, dass ich nicht mit Sicherheit weiß, wer die arme Frau in der Besenkammer ist, aber es stimmt auch, dass ich vom ersten Blick an einen fürchterlichen Verdacht hatte. Es ist eine Art Vorahnung, die ich nur schwer erklären kann, fast schon eine Gewissheit. Seither geht mir das nicht mehr aus dem Kopf, und ich frage mich, wie wenig ich über das Leben meiner Großeltern weiß. Doch dann schimpfe ich wieder mit mir, weil ich so grausam sein kann. Aber was wäre, wenn ich recht hätte? Was meinst du? Hast du einen Verdacht, wer das sein kann? Wer fällt dir zuallererst ein?
Während der Vernehmung steuerte der Restaurator interessante technische Details bei. Er hat gesagt, dass seiner Meinung nach das Wandgemälde niemals von seiner ursprünglichen Stelle entfernt worden ist, also von der Wand, auf die es gemalt wurde. Er meint, dass zuerst die Putzschicht auf die Wand aufgebracht wurde, die den Zugang zur Besenkammer verschloss, und dass das Fresko sofort darauf gemalt wurde. Er erklärte den Anwesenden die Technik Schritt für Schritt. Weißt du, Mama, bei der a-fresco -Technik wird immer auf den noch feuchten, nicht gehärteten Kalk gemalt, und zwar mit natürlichen Farbpigmenten auf Eisenoxidbasis, die in die Wand eindringen, bis sie sich gewissermaßen mit ihr vermengen. Die Polizei fragte, ob der Künstler normalerweise den Putz selbst aufträgt. Der Restaurator meinte, dass er das im Fall von Amadeo Lax für unwahrscheinlich hält, denn als angesehener Maler hätte er vermutlich keine Zeit für etwas verschwendet, was jemand anders hätte ausführen können.

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