Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Anhaltspunkt, denn in den Ring ist ein Name eingraviert: Francisco Canals Ambrós. Mir sagt der Name nichts, ich habe keine Ahnung, wer das sein soll. Arcadio auch nicht. Mal sehen, was die alten Herrschaften sagen (ich habe mal die gute alte Mamipedia gefragt).
Die Tote hat ein Mal am Hals. Der Gerichtsmediziner hat es sehr lange intensiv mit der Lupe betrachtet, aber nichts gesagt.
Weißt du, was mich am meisten an der ganzen Sache beeindruckt hat? Die Fingernägel der Toten: Sie sind lang und gepflegt. Und schwarz.
Nachdem man sie in einem Plastiksarg mit ins Labor genommen hat, fragte mich der Mann vom Bestattungsunternehmen, wer sich um das Begräbnis kümmert, wenn alles vorbei ist. Ich wusste nicht, was ich ihm darauf antworten sollte. Ich habe ihm nur gesagt, dass er die Ergebnisse der Polizei abwarten soll. Die Beisetzung. Das ist wirklich das Letzte, worauf ich jetzt Lust habe.
Es waren schon fast alle gegangen, da bat mich dieser Sargento Paredes, der andauernd in seinen Aufzeichnungen blätterte, ihm etwas über »die Frau aus der Familie zu erzählen, die verschwunden ist, ohne eine Spur zu hinterlassen«. Ich habe ihm gesagt, dass Teresa nicht verschwunden ist, sondern dass sie meinen Großvater verlassen hat, um zu einem anderen Mann zu ziehen. Der Polizist fragte mich, ob es dafür Anhaltspunkte gebe, irgendeinen Hinweis, der bestätigt, dass Teresa sich irgendwo anders aufhielt. Ich antwortete ihm, dass mein Großvater das damals wohl gewusst haben muss, aber dass er niemals darüber gesprochen hat. Und dass die ganze Familie seinen Schmerz respektiert hat.
»Und Ihr Vater? Hat er denn niemals seine Mutter wiedersehen wollen?«, fragte er mich. Ich habe versucht, ihm zu erklären, wie Papa so ist, nach allem, was ich weiß und was ich vermute. »Auch wenn er niemals darüber gesprochen hat, ich glaube, er ist immer wütend auf seine Mutter gewesen«, meinte ich. »Ich glaube, es war das Beste für beide gewesen, dass er niemals versucht hat, sie zu finden.«
»Und Sie? Waren Sie nicht neugierig?«
Als ich ihm die Wahrheit sagte, ging es mir dabei nicht so gut: Schließlich habe ich mein Leben lang Teresa auf Bildern betrachtet. Ich habe über sie geredet, Vorträge gehalten, Spekulationen angestellt. Ich kenne die Haltung, den genauen Gesichtsausdruck, den Glanz in den Augen meiner Großmutter auf jedem einzelnen ihrer siebenunddreißig Porträts. Ich bin DIE Expertin für sie. Und irgendwie habe ich mich damit zufriedengegeben. Sie war ein abgeschlossenes Thema, ein Studienobjekt. Ich bin nicht einmal auf die Idee gekommen, tiefer zu dringen.
Der Polizist seufzte, und ich auch. Dieses Gespräch steckte fest. Bis er schließlich seine letzte Frage stellte: »Noch einmal im Ernst: Hat bis jetzt kein Familienmitglied jemals in Betracht gezogen, dass Teresa ermordet worden sein könnte?«
VIII
Die wichtigste Leistung, die Doña Maria del Roser Golorons für die Amme und Kinderfrau ihres Sohnes erbracht hatte, war ihr Leseunterricht. Ihre Sitzungen konnten zwar nicht regelmäßig stattfinden und wurden irgendwie zwischen die übrigen Verpflichtungen der beiden eingeschoben, und manchmal lagen die Lesestunden so weit auseinander, dass die beiden Frauen sich nicht daran erinnern konnten, wo sie stehengeblieben waren, wenn sie wieder damit begannen. Aber Conchas Eifer und die Geduld der Señora trugen viel zum Erfolg bei.
»Du kommst sehr schnell voran, Conchita!«, ermunterte Maria del Roser sie, »und du bist stur wie ein Maultier.«
»Aber natürlich, Señora, ich komme ja auch aus Aragonien.«
Mit ihrer Begeisterung fürs Lernen hatte die Hausangestellte bei der Señora, die hauptsächlich zwischen Büchern und Papieren lebte, an Ansehen gewonnen. Ihr Einfluss auf Concha war grundlegend, und zwar in allen Aspekten. Bevor sie in den Haushalt der Familie Lax eintrat, war Concha davon überzeugt gewesen, dass Frauen nur die Fähigkeiten besaßen, die sie in der Küche, bei der Feldarbeit und im Bett – selbstredend waren damit die Geburten gemeint – zeigten, womit jegliche intellektuelle Begabung völlig ausgeschlossen war.
Die Señora geriet in Rage, als Concha ihr ihre Anschauungen darlegte.
»Mädchen, dein Kopf ist voll mit altem Plunder. Wir Frauen sind zu den gleichen Dingen fähig wie die Männer, und zwar zu jeder Zeit. Wir dürfen nur nicht so dumm sein, uns selbst Schranken aufzuerlegen. Nimm dir das unbedingt zu Herzen, denn du hast noch ein langes Leben vor dir, um es zu
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