Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
so illustrer Gesellschaft zu sehen. Als Alfonso XIII. sich vom Personal verabschiedete, das mit Eutimia an der Spitze am unteren Treppenabsatz stramme Haltung angenommen hatte, kam es zu einer erneuten kurzen Verzögerung. Diese kleine Pause rettete die Haut der sechs königlichen Lakaien in ihrer friderizianischen Uniform – Perücken mit weißen Korkenzieherlocken, Dreispitz mit Federn, roter Gehrock, kurze Hose und weiße Strümpfe –, die sich von Juanita hatten umschmeicheln lassen. Die Köchin war von der Vornehmheit, die diese Männer ihrer Küche verliehen, so entzückt, dass sie ihnen einen eigenen Empfang bereitete. Als der König endlich das Haus verließ und den Pasaje Domingo betrat, fühlte er sich wie neugeboren, und die Lakaien standen an ihren Posten. Als alle die Wagen bestiegen hatten, verschwanden sie und hinterließen das Haus weitaus unordentlicher, als sie es vorgefunden hatten.
Nachdem im Liceo alles wunschgemäß verlaufen war und während Don Rodolfo wie eine altersschwache Lokomotive schnarchte, brachten in der Nacht einige unbequeme Gedanken die Señora um den Schlaf. Sie dachte nicht nur über das unverhoffte Privileg nach, das ihr dieser Tag beschert hatte und ihr Anlass gab, sich überaus glücklich zu schätzen. Nein, der junge Josep Maria Albert Despujol oder der von ihr so geschätzte Octavio Conde del Olmo gingen ihr einfach nicht aus dem Kopf: das Geschick, mit dem die beiden jungen Männer sich in der Gesellschaft bewegten, der vertraute Tonfall, in dem sie mit dem König umgingen. Das Auftreten ihres eigenen Sohnes war weit entfernt davon, dabei würde sie ihn liebend gern genauso ungezwungen und in die Gesellschaft eingebunden erleben wie seine Freunde. In ihr keimte der unerträgliche Verdacht auf, dass Amadeo einfach nicht in der Lage war, so ein Verhalten an den Tag zu legen. Und Maria del Roser kam nicht umhin, Schuldgefühle zu verspüren: ›Ich hätte mich mehr um ihn kümmern müssen, als er klein war. Ich hätte ihn nicht so oft Conchita überlassen dürfen. Ich hätte nicht erlauben sollen, dass Rodolfo ihn so hart anfasste, als die Probleme auftraten.‹ Solch quälende Gedanken bewegten sie in der dunklen Nacht.
Von dieser Überzeugung angetrieben, die ihre Schuldgefühle noch steigerten, stand sie auf, tastete sich im Dunkeln zum Schreibtisch, zündete die kleine Lampe an, griff zum Briefpapier und schrieb Amadeo eine Nachricht. Sie kündigte ihm die bevorstehende Eheschließung von Josep Maria Albert Despujol mit dem Mädchen aus dem Hause Muntadas an und übermittelte dessen Wunsch, ihn als Trauzeugen bei diesem Ereignis zu haben. Sie adressierte das Schreiben an das Hotel in Rom, das Amadeo ihr als seinen wahrscheinlichsten Aufenthaltsort genannt hatte, und machte den Brief fertig, damit er am nächsten Morgen zur Post gegeben werden konnte. Dann kehrte sie wieder ins Bett zurück.
Drei Wochen später erreichte sie die Antwort ihres Sohnes.
Liebe Mutter,
derzeit beabsichtige ich keine Heimreise. Sobald ich mich dafür entscheide, werde ich Sie es wissen lassen. Ich bitte Sie, Señor Albert Despujol von mir ein passendes Geschenk zukommen zu lassen, ebenso meine besten Wünsche für eine glückliche Ehe und für gesunde Nachkommen.
Ihr Sie liebender Sohn,
Amadeo
Doña Maria del Roser ging es nach diesem Brief nicht besser. Doch glücklicherweise kam bald der Sommer, der ihre Stimmung immer hob. Die Meeresbrise und die Distanz zu den Problemen in der Stadt halfen ihr, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass ihr Sohn den Dingen, die ihr den Schlaf raubten, keinerlei Bedeutung zumaß. Sie beschloss, seine monatliche Anweisung fortzusetzen und ihn weiter gewähren zu lassen. Schließlich und endlich war das weniger aufreibend als die andauernde Aufregung.
Amadeos Auslandsaufenthalt zog sich weitere zwölf Monate hinaus und hätte bestimmt noch länger gedauert, wenn ein Ereignis nicht die Geschehnisse umgelenkt hätte. Noch Jahre später vertrat der Lax-Erbe die Meinung, dass dieser Augenblick seine Jugend abrupt beendet hatte.
Am 20. Juli 1909 erhielt der junge Maler ein Expresstelegramm: Papa tot. Komm sofort zurück.
Montag, 1. März 2010
Artikel aus der Zeitschrift El cultural
Improvisation nach 36 Jahren Untätigkeit
Von Nuria Azancot
Die verschlungene Geschichte begann 1974 mit der Eröffnung des Testaments von Amadeo Lax, einem Vertreter des Novecentisme, der ein in seinem Besitz befindliches Stadtpalais der Autonomen Region Katalonien
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