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Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
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ist womöglich eines der einfühlsamsten Werke des Künstlers überhaupt. Es zeigt das Mädchen in einem langen Kleid am Klavier sitzend, eine Hand stützt die Wange, und die andere liegt auf den Tasten. Die Perlen an der Haarspange, die das Modell trägt, sowie die Landkarte im Hintergrund an der Wand – anscheinend ein Plan der Stadt Barcelona – haben dazu geführt, dass in diesem Gemälde oftmals eine Hommage an Jan Vermeer gesehen wird. Die Experten verweisen bei diesem Bild vor allem auf das ausdrucksstarke Gesicht, den Glanz der Augen, die Flüchtigkeit des festgehaltenen Augenblicks, die raffinierte Gestaltung der Szene sowie auf die Liebe zum Detail, die für die Familienporträts von Lax so bezeichnend ist. Auffällig ist hier auch die sichere Ausführung, die breite, sorgfältige Pinselführung und der originelle Umgang mit den Raumverhältnissen, bei dem die Flächen stark vereinfacht dargestellt sind. Die Farbpalette beschränkt sich vor allem auf das Weiß des duftigen Kleides sowie auf die matten Brauntöne des Klaviers – ein Instrument aus der Klavierfabrik Cassadó y Moreu aus dem Jahr 1902, aus kubanischem Mahagoni mit Intarsien, die genau zu erkennen sind –, wodurch das Blau der Rose im Ausschnitt des Mädchens zu einem besonderen Farbtupfer wird. In der viktorianischen Blumensprache, der sich Lax in seinen Porträts oftmals bediente, steht die blaue Rose für das Unmögliche. In dem Fall spielt das Symbol auf die unmögliche Heilung seiner Schwester an, die ein Jahr, nachdem sie für dieses Porträt Modell saß, im zarten Alter von sechzehn Jahren starb.
 
Spanische Porträtmaler des 20. Jahrhunderts ( Ausstellungskatalog des Art Institute of Chicago ), Chicago 2010

XIV
    Maria del Roser Golorons hatte durchaus Grund zu der Annahme, sich nicht ausreichend um ihre Kinder gekümmert zu haben. Doch damals wäre niemandem mit ihrem sozialen Status in den Sinn gekommen, die Zeit mit Kleinkindern zu vergeuden. Dafür gab es Personal, das ja auch seinen Preis hatte. Kinder fielen bei gesellschaftlichen Anlässen nur lästig und störten die gepflegte Konversation. Es war also besser, sie von den Erwachsenen zu trennen, bis sie sich wie richtige Menschen benehmen konnten.
    Insofern führten Kinder von wohlhabenden Leuten in ihren ersten Lebensjahren eine Doppelexistenz: Sie lernten gleichermaßen die leckeren Düfte in den Küchen wie die orientalischen Essenzen am mütterlichen Toilettentisch kennen. Sie waren glücklich, wenn sie Mäuse im Holzschuppen fingen, oder genossen die Gemüse- und Kartoffeleintöpfe, von denen sich die Dienstboten ernährten – alles Dinge, die ihren Eltern die Schamröte ins Gesicht getrieben hätten. Wie alle anderen auch waren diese Kinder mit der natürlichen, aber vergänglichen Fähigkeit auf die Welt gekommen, die wirklich wichtigen Dinge von denen nutzlosen unterscheiden zu können.
    Amadeo bildete darin keine Ausnahme. In seinen ersten vier Lebensjahren schlief er in Conchas Dienstmädchenzimmer im Untergeschoss – seit der Nacht, in der seine Mutter in ihrer Verzweiflung im Nachthemd die Treppe hinuntergekommen war und beschlossen hatte, ihren Erstgeborenen dort schlafen zu lassen. Mit Juans Geburt wurden die Dienste der Amme und Kinderfrau oben benötigt, und man entschied, die beiden im Spielzimmer unterzubringen, wo sie die Gewohnheiten, die im Keller begonnen hatten, fortsetzten, ohne dass jemand etwas dagegen unternahm. Die Welt der Kinder ging außer Concha niemanden etwas an.
    Eines Morgens, in dieser arbeitsreichen Stunde zwischen Frühstück und Promenade, pochte Concha mit den Fingerknöcheln gegen die Tür ihrer Señora. Der Umzug der Familie ins neue Haus stand in weniger als einer Woche bevor.
    »Ach, du bist das«, stellte Maria del Roser fest und blickte über den Brillenrand, während sie weiterschrieb. »Was gibt es denn?«
    »Ich möchte Ihnen etwas sagen, bevor Sie es selbst sehen oder Ihnen Dritte davon berichten«, begann Concha.
    Angesichts einer derart feierlichen Ankündigung ließ Maria del Roser sofort vom Schreiben ab.
    »Was ist denn los?«
    »Amadeo hat sich in der Nacht am Kopf verletzt. Es ist nicht schlimm, nur eine Schramme.«
    »Ja, und?«
    Concha seufzte.
    »Also, die beiden Brüder haben miteinander gestritten. Daraufhin habe ich sie bestraft. Amadeo ist danach sehr wütend zu Bett gegangen. Er hat sich dann so oft hin und her gewälzt, bis er schließlich aus dem Bett gefallen ist und sich die Stirn aufgeschlagen

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