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Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
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Lasst alles so, wie es ist.«
    »In Ordnung. Es wagt sich ohnehin keiner hinein. Die Jungs haben Schiss.«
    »Das ist doch nicht die Grabkammer von Tutenchamun. Schließlich sind sie erfahrene Männer.«
    »Na ja, so erfahren sind sie nun auch wieder nicht. Außerdem, die meisten verstehen mich gar nicht. Das sind lauter Rumänen und Marokkaner, zwei ziemlich abergläubische Völker, die sehen überall Tote, Chef.«
    ›Schon wieder Tote, verdammte Scheiße‹, denkt Selvas und ruft nun doch Arcadio Pérez an. Dieser hatte eigentlich nicht damit gerechnet, vor Abschluss der Umbauarbeiten zurückzukehren, und obwohl er das Gebäude keineswegs in diesem ruinösen Zustand sehen wollte, taucht er sofort auf. Violeta begleitet ihn.
    Der Polier führt sie zu der Entdeckung. Der Fußboden ist von Schuttbrocken übersät. Die Überreste der rosafarbenen Tür lehnen an einer tragenden Wand. Die Öffnung in der Wand sieht wie ein Übergang in eine andere Dimension aus. Die beiden gehen hinein und blicken sich um.
    Dort steht ein eisernes Bettgestell mit einer Matratze, einer abgewetzten Decke und einem Kopfkissen. Darüber hängt ein Bildnis mit der Unbefleckten Maria als Kind. Auf dem Bett liegt eine Porzellanpuppe in einem blauen Tüllkleid. Das Mobiliar besteht weiterhin aus einem Stuhl, einem rechteckigen Schrank mit einem Ganzkörperspiegel sowie einer Kommode mit vier Schubladen. Die Gegenstände darauf sehen aus, als hätte man sie gerade eben dort aufgestellt: ein Schreibtischset aus Bronze, ein Krug, ein Buch, ein Messbuch, eine Blechdose, ein Rosenkranz, ein Paar Handschuhe, eine Haarspange … Violeta nimmt den Haarschmuck in die Hand. Es ist ein kleines, mit Perlmutt und Perlen besetztes Rechteck, ganz wie das, das auf dem Porträt von Violeta zu erkennen ist, das das Mädchen gelangweilt am Klavier zeigt. Ein Gegenstand mit einer ihm eigenen Unsterblichkeit.
    Sie öffnet den Schrank. Ein Dutzend Kleider hängt auf der einen Seite. Auf der anderen stapeln sich in den Schrankfächern mehrere Hüte. Auf dem Schrankboden stehen Schuhe. Insgesamt sechs Paar.
    »Die Kommode ist auch voller Kleidung.« Arcadio deutet auf die Schublade, die er eben aufgezogen hat.
    Violeta stöbert in den Utensilien auf der Kommode. Sie streift die Handschuhe über, die sich perfekt an ihre schmalen Hände anpassen. Das Messbuch trägt auf dem Buchrücken Goldlettern. Das andere Buch ist ein Roman. Teófilo Gautier, Espírita , steht auf dem Einband. Dieser Druck von Gautiers Spirita stammt aus dem Jahr 1861, und zwar aus der Madrider Verlagsbuchhandlung Alfonso Durán. Im Vorsatz befindet sich ein Exlibris im Stil des Modernisme. Es zeigt ein geschlossenes Buch, auf dem ein Wasserkrug, ein Olivenzweig und eine Waage abgebildet sind, die alle mittels der Buchstaben O, C, G und O verbunden sind. Sie blättert in dem Buch. Einige Passagen sind unterstrichen. Sie hält bei der ersten inne, die ihr ins Auge fällt, auf Seite 86: »Von dem Augenblick an verschwanden alle Frauen, die er bislang kennengelernt hatte, aus seiner Erinnerung.«
    Aus den Buchseiten fällt ein Briefumschlag mit abgegriffenen Ecken. Als Absender liest sie einen Namen, der ihr überhaupt nichts sagt: Montserrat Espelleta. Der Brief ist an Teresa Brusés gerichtet, aber ohne Adresse. Aus dem sorgfältig aufgeschlitzten Umschlag entnimmt Violeta drei Bögen Briefpapier mit einer perfekten, runden Handschrift, die sie sofort an die Schönschrift der Nonnen ihrer Schule erinnert. Violeta liest nur die Anrede: Sehr geehrte Dame. Der Brief ist zu lang, um ihn jetzt zu Ende zu lesen. Sie legt ihn in den Umschlag zurück und macht sich weiter auf die Suche.
    Die Blechdose ist mit Kinderszenen bedruckt, und der Name einer Keksfabrik prangt in modernistischen Buchstaben darauf. Sie ist angefüllt mit Zeitungsausschnitten und alten Papieren. Violeta betrachtet alles mit steigender Verzweiflung. Sie weiß, dass sie, so sehr sie sich auch anstrengen mag, so viele Rätsel niemals begreifen wird.
    Denn die Vergangenheit erscheint, von der Gegenwart aus betrachtet, wie ein Puzzle, dem einige Teile fehlen.
    »Können Sie in den anderen Stockwerken weiterarbeiten, während wir das alles hier mitnehmen?«, fragt Arcadio.
    Selvas geht wohlwollend auf die Bitte ein.
    »Ja, schon gut. Aber beeilen Sie sich.«
Violeta langweilt sich beim Warten , 1913
Öl auf Leinwand, 95 × 41 cm
Barcelona, MNAC
Das einzige Porträt, das Amadeo Lax von seiner Schwester Violeta Lax Golorons gemalt hat,

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