Die Gejagte
ihren stachligen Wimpern an und lächelte.
Tom lächelte zurück und hielt ihrem Blick stand. Audrey
flirtete weiter mit ihm, während sie ihm den Teller füllte, schaute lächelnd zu ihm auf und ließ es zu, dass ihre Finger seine berührten, als sie ihm den Teller reichte. Als er sich schließlich abwandte, warf sie Jenny einen vielsagenden Blick zu. Siehst du?
Jenny erwiderte den Blick gelassen. Tom war immer nett zu anderen Mädchen und es machte ihr nichts aus. Es bedeutete nichts. Sie war sehr zufrieden mit ihrer Welt, während alle sich etwas auf ihre Teller schaufelten und ins Wohnzimmer zurückkehrten.
Es ging völlig unkompliziert zu. Sie setzten sich um den Couchtisch herum, einige von ihnen auf Lederhockern, andere direkt auf die mexikanischen Fliesen. Jenny war überrascht, dass noch niemand die weiße Schachtel mit den Pappbögen beiseitegeschoben hatte.
»Hast du eine Schere?«, fragte Zach. »Aber ein Schablonenmesser wäre noch besser. Und ein Metalllineal und Kleber.«
»Du willst es zusammenbasteln ?«
»Klar, warum nicht? Sieht nach einem guten Modell aus.«
»Ist irgendwie süß«, sagte Summer und kicherte.
»Du machst Witze«, sagte Jenny. »Ein Papierhaus …« Sie sah sich um und erwartete Unterstützung.
»Es ist ein Spiel«, erklärte Dee. »Siehst du, auf der Rückseite des Deckels stehen die Spielregeln. Beängstigende Regeln.« Mit einem wilden Lächeln blickte sie in die Runde. »Mir gefallen sie.«
Michael, dem ein Teil einer Frühlingsrolle aus dem Mund hing, sah beunruhigt aus.
»Aber wie kann man mit einem Papierhaus ein Spiel spielen?« Jenny spürte, wie ihre Stimme unter Toms Blick schwächer wurde. Ein Blick, den nur Tom draufhatte – charmant, überzeugend und absolut dramatisch. Natürlich war das alles aufgesetzt, aber Jenny konnte ihm einfach nie widerstehen. »Oh, schon in Ordnung, du großes Baby«, sagte sie. »Wenn du es wirklich willst. Ich hätte auch noch eine Rassel und einen Schnuller für dich besorgen sollen.« Kopfschüttelnd holte sie eine Schere.
Während des Essens setzten sie das Modell zusammen, schmierten gelegentlich ein bisschen Fett auf die Pappteile und gestikulierten mit den Essstäbchen. Tom überwachte das Ganze. Zach erledigte die meisten Ausschneidearbeiten; durch die Bearbeitung der Fotos, die er machte, hatte er Übung darin. Jenny beobachtete, wie sich unter seinen vorsichtigen, geschickten Fingern die flachen Pappteile zu einem fast ein Meter hohen viktorianischen Haus formten – das man einfach bewundern musste.
Es war blau, hatte drei Stockwerke und ein Türmchen und war vorn offen wie ein Puppenhaus. Das Dach konnte man abnehmen. Bogen um Bogen musste ausgeschnitten werden, um all die Schornsteine und Simse, die Balkone und Dachtraufen anzusetzen, aber niemand wurde der Arbeit müde. Nur Michael beschwerte sich. Aber Tom schien von dem Ganzen begeistert zu sein. Und selbst Audrey, von der Jenny gedacht hatte, dass sie viel zu extravagant
war, um an so etwas Spaß zu haben, fasste geschickt mit an.
»Seht mal, hier sind sogar einige Möbel, die man hineinstellen kann – bist du mit der ersten Tür fertig, Zach? Schaut nur, das ist der Salon, und hier habe ich einen kleinen Salontisch. Neugotisch, glaube ich. Meine Mutter hat einen. Ich werde ihn … hierhin stellen.«
»Das hier ist so eine Art orientalischer Wandschirm«, bemerkte Summer. »Ich werde ihn neben den Tisch stellen, damit die Puppen ihn ansehen können.«
»Es sind keine Puppen dabei«, sagte Jenny.
»Doch, es sind welche dabei«, widersprach Dee grinsend. Sie hatte ihre langen Beine angezogen und las die Spielregeln. »Die Puppen sind nämlich wir. Hier steht, dass jeder Spieler eine Papierpuppe bekommt und wir unser eigenes Gesicht darauf malen sollen, dann bewegen wir die Figuren durch das Haus und versuchen, zu dem Türmchen nach oben zu gelangen. Das ist das Spiel.«
»Du hast doch gesagt, es sei beängstigend«, wandte Tom ein.
»Ich war noch nicht fertig. Es ist ein Spukhaus. Während man versucht, nach oben zu gelangen, begegnet man in jedem Raum einem anderen Albtraum. Und man muss sich vor dem Mann der Schatten hüten.«
»Dem was ?«, fragte Jenny.
»Dem Schattenmann. Wie der Sandmann, nur dass er einem Albträume bringt. Er lauert im Haus, und wenn er dich fängt, wird er – nun ja, hört zu. Er wird ›deine dunkelsten
Fantasien zum Leben erwecken und dich dazu bringen, deine geheimsten Ängste einzugestehen‹«, las sie mit
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