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Die Gejagte

Die Gejagte

Titel: Die Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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damals etwas anderes gesagt, aber was wussten die schon?
    Wie auch immer, sie konnte es ganz bestimmt nicht zu Papier bringen.
    Alle anderen malten eifrig. Tom und Dee kicherten miteinander und benutzten den Deckel der weißen Schachtel als Schreibunterlage. Summer lachte, schüttelte ihre flauschigen, hellen Locken zurück und zeichnete mit vielen verschiedenen Farben. Zach brütete stirnrunzelnd über seinem Albtraum, das Gesicht noch angestrengter als gewöhnlich. Audrey hatte vergnügt die Augenbrauen hochgezogen.
    »Wo ist Grün? Ich brauche jede Menge Grün«, sagte Michael und wühlte in der Stiftedose.
    »Wofür?«, fragte Audrey mit schmalen Augen.
    »Kann ich dir nicht verraten. Ist ein Geheimnis.«
    Audrey drehte ihm den Rücken zu und beschirmte ihr eigenes Blatt.
    »Stimmt, es ist wichtig, dass das alles geheim bleibt«, pflichtete Dee Michael bei. »Das Geheimnis wird erst gelüftet, wenn man den jeweiligen Raum erreicht.«
    Niemand hier könnte ein Geheimnis vor mir haben,
dachte Jenny. Bis auf Audrey kenne ich alle seit einer Ewigkeit. Ich weiß, wer wann seinen ersten Zahn verloren und den ersten BH bekommen hat. Keiner von ihnen konnte ein echtes Geheimnis haben – so wie ich.
    Allerdings – wenn sie eins hatte, warum nicht auch die anderen?
    Jenny schaute Tom an. Den gut aussehenden Tom, eigenwillig und ein wenig arrogant, wie sogar Jenny insgeheim zugeben musste. Was er wohl gerade zeichnete?
    »Für meinen brauche ich auch Grün. Und Gelb«, erklärte er.
    »Für meinen brauche ich Schwarz«, meinte Dee und kicherte.
    »Okay, ich bin fertig«, sagte Audrey.
    »Komm schon, Jenny«, forderte Tom sie auf. »Was ist denn mit dir?«
    Jenny schaute auf ihr Blatt Papier hinunter. Die Ränder waren vollgekritzelt, die Mitte war leer. Für einen peinlichen Moment ruhten alle Augen auf ihr. Dann drehte sie das Papier um und gab es Dee. Sie würde es eben später erklären müssen.
    Dee mischte alle Blätter und legte sie mit der bemalten Seite nach unten in die verschiedenen Räume des oberen Stockwerks. »Jetzt setzen wir unsere Papierpuppen unten in den Salon«, sagte sie. »Dort werden wir alle anfangen. Und da in der Schachtel sollten noch Spielkarten liegen, die uns erzählen, was wir tun müssen und wohin wir uns bewegen sollen. Summer, leg sie bitte in einem Stapel auf den Tisch.«

    Summer gehorchte, während Audrey die Papierpuppen auf die dazugehörigen kleinen Plastikständer setzte und im Salon verteilte.
    »Wir brauchen noch etwas«, bemerkte Dee. Nach einer dramatischen Pause fügte sie hinzu: »Den Schattenmann.«
    »Hier ist er«, erwiderte Summer und nahm den letzten glänzenden Pappbogen aus der Schachtel. »Ich werde zuerst seine Freunde ausschneiden – den Kriecher und den Schleicher.« Gesagt, getan, dann reichte sie Audrey die Figuren. Der Kriecher war eine Riesenschlange, der Schleicher ein zorniger Wolf. Ihre Namen waren in blutroter Schönschrift gedruckt.
    »Entzückend«, bemerkte Audrey, während sie die Plastikständer an den Kreaturen befestigte. »Sollen die an irgendwelche speziellen Stellen, Dee?«
    »Nein, die Karten werden es uns sagen, wenn wir darauf stoßen.«
    »Und hier ist der Mann der Schatten. Von mir aus kann er mich ruhig beschatten, ich finde ihn süß«, sagte Summer und gab Audrey die letzte Figur. Instinktiv umklammerte Jenny das Handgelenk ihrer Freundin. Sie konnte nichts sagen. Sie konnte nicht einmal atmen.
    Es war unmöglich – aber es war so. Kein Zweifel. Das Gesicht der Figur, die Audrey in der Hand hielt, war unverkennbar.
    Es war der Junge in Schwarz, der Junge aus dem Spieleladen. Der Junge mit den schockierend blauen Augen. Und er starrte sie an.

Jenny hatte das Gefühl, von einer schwarzen Flutwelle erfasst zu werden. Er war es. Der Junge aus dem Spieleladen. Sie erkannte jede Einzelheit seines Gesichtes; es war eine perfekte Reproduktion, auch wenn es keine Fotografie war. Der Junge war ebenso gezeichnet wie die Schlange und der Wolf. Das Haar des Jungen war silbrig weiß mit bläulichen Schatten. Seine dunklen Wimpern waren gut getroffen. Das Porträt war so lebensecht, als könnten diese Augen jeden Moment blinzeln, als könnten diese Lippen jeden Moment sprechen.
    Und es strahlte Bedrohung aus. Gefahr.
    »Was ist los?«, fragte Audrey. Als Jenny aufschaute, verschwamm das Gesicht ihrer Freundin vor ihren Augen. Jenny heftete den Blick auf den Schönheitsfleck direkt über Audreys Oberlippe. Audreys Lippen bewegten sich, aber es

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