Die Gejagte
Lebens. Ist das ein Eierbrötchen, das ich da vor mir sehe?«, fragte Michael und streckte die Hand aus.
»Ist es nicht. Leg’s wieder zu den anderen auf den Teller und bring alles ins Wohnzimmer.«
»Ich lebe, um zu dienen«, antwortete Michael und verschwand.
Du meine Güte – die Schachtel, dachte Jenny. Bei Michael musste man immer damit rechnen, dass er im Zimmer herumwerkelte, fremde Post las und geschlossene Schubladen öffnete, und das alles vollkommen geistesabwesend. Und unersättlich neugierig. Sie folgte ihm.
Beim Anblick der Schachtel krampfte sich ihr Magen
zusammen: Makellos, rechteckig und glänzend lag sie auf dem Couchtisch ihrer Mutter – der aus massiver Goldkiefer war. Jennys Mutter hatte zusammen mit einem sehr teuren Innenarchitekten daran gearbeitet, das Wohnzimmer »natürlich und angemessen und überhaupt nicht künstlich« einzurichten. An den Wänden hingen Navajo-Wandbehänge und Hopi-Körbe, auf dem Boden standen Zuni-Töpfe und vor dem Kamin lag ein Chimayo-Teppich. Und nichts von alledem durfte Jenny anfassen.
Ganz ruhig, beschwor sie sich. Aber es kam ihr erstaunlich schwierig vor, sich der weißen Schachtel auch nur zu nähern. Als sie sie endlich ergriff, stellte sie fest, dass ihre Hände so verschwitzt waren, dass sie an dem Karton klebten.
Summ. Als ob Strom durch ihre Finger pulsierte. Jetzt fühlte Jenny noch deutlicher als zuvor, dass damit irgendetwas nicht stimmte.
Zur Hölle damit! Ich werde das Ding einfach wegwerfen, dachte Jenny, und war überrascht, wie sehr sie diese Idee erleichterte. Dann spielen wir eben Canasta.
Michael musterte die Schachtel Frühlingsrollen mampfend und voller Interesse.
»Was ist das? Ein Geschenk?«
»Nein – bloß ein Spiel, das ich gekauft habe, aber ich werde es wegwerfen. Mike, weißt du, wie man Canasta spielt?«
»Nö. Aber wo ist denn unser kleiner Sonnenschein?«
»Noch nicht hier – oh, es klingelt, das wird sie wahrscheinlich sein. Würdest du bitte die Tür aufmachen?«
Michael schaute unentschlossen zwischen dem Teller in seiner einen Hand und der Frühlingsrolle in der anderen hin und her. Also lief Jenny selbst in den Flur, wobei sie die Schachtel immer noch umfasst hielt.
Summer Parker-Pearson war winzig, mit Haaren, so flauschig wie Wolle, und Grübchen, in die man am liebsten einen Finger gebohrt hätte. Sie trug ein porzellanblaues Shirtkleid und sie zitterte.
»Es ist eiskalt. Wie können wir da in den Pool, Jenny?«
»Gar nicht«, sagte Jenny sanft.
»Oh. Und warum habe ich dann meinen Badeanzug mitgebracht? Hier ist übrigens mein Geschenk.« Sie legte eine in braunes Papier gewickelte Schachtel auf die weiße Schachtel in Jennys Händen, platzierte eine kleine Tragetasche obendrauf und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer.
Jenny folgte ihr, legte alles auf den Couchtisch und zog dann die weiße Schachtel wieder unter dem Stapel hervor. Summ. Da war es wieder, dieses elektrische Pulsieren. Summer begrüßte Mike, Zach und Dee.
»Hört mal«, sagte Jenny, »wenn ihr mich für eine Sekunde entschuldigen wollt …« Die Türklingel unterbrach sie erneut. Doch diesmal wollte sie gar nicht, dass irgendjemand anders öffnete. »Ich geh schon.«
Tom stand auf der Türschwelle.
Er sah gut aus. Natürlich fand Jenny ihn immer gut aussehend, aber heute Abend ganz besonders. Er sah wirklich teuflisch gut aus mit seinem dunkelbraunen Haar, das sportlich
kurz geschnitten war, und seinem leicht spöttischen Lächeln. Tom trug dasselbe wie andere Jungs und doch sah es an ihm irgendwie anders aus. An ihm wirkte sogar eine gewöhnliche Jeans wie vom Designer. Heute Abend trug er ein smaragdgrünes T-Shirt unter einem Hemd, das von einem wunderschönen Blau war. Ein intensives Blau, das Jenny an irgendetwas erinnerte.
»Hi«, begrüßte Jenny ihn.
Er grinste verwegen und streckte ihr seinen Arm entgegen.
Jenny ließ sich bereitwillig umarmen, während sie die Schachtel weiter festhielt. »Tom, es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden will, allein. Es ist schwer zu erklären …«
»Oh nein, nun bekomme ich ausgerechnet an meinem Geburtstag den Laufpass«, sagte er laut. Er hatte den Arm um sie gelegt und führte sie den Flur entlang in Richtung Wohnzimmer.
»Lass das«, sagte Jenny verärgert. »Könntest du bitte für eine Minute ernst sein?«
Aber Tom war offensichtlich nicht in der Stimmung, ernst zu sein. Er tanzte mit ihr ins Wohnzimmer, wo alle außer Audrey saßen und lachten und redeten.
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