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Die Gejagte

Die Gejagte

Titel: Die Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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normalerweise stand.
    Das Regal war verschoben worden, um die Tür freizulegen, die es sonst verdeckte. Tatsächlich musste man auch jetzt noch um das Bücherregal herumgehen, um die Tür komplett zu sehen.
    Und genau das war es, was Jenny jetzt tat.

    Die Tür sah vollkommen normal aus. Wahrscheinlich gehörte sie zu einem Wandschrank. Das einzig Seltsame daran war das riesige, nach hinten geneigte X, das tief in das Holz eingemeißelt war.
    Eingemeißelt und rostbraun gefärbt wie die Flecken auf dem Gedicht.
    Obwohl Jenny es weder wollte noch brauchte, hatte sie plötzlich wieder ihren inneren Film vor Augen. Das geisterhafte kleine Mädchen stand überrascht vor der Wandschranktür und trat von einem Fuß auf den anderen, hin und her gerissen zwischen Versuchung und Gehorsam  – und die Versuchung gewann. Das windzerzauste Haar wurde zurückgeweht, die gebräunten Beine blitzten auf, zwei kleine Hände umfassten den Türknauf – und dann war der Geist wieder verschwunden.
    Und dann habe ich die Tür geöffnet, dachte Jenny. Aber wie sie das getan hatte oder was danach geschehen war – davon wollte ihr kein Bild in den Sinn kommen. Das würde sie allein herausfinden müssen.
    Auf dem Weg zur Tür hämmerte ihr Herz vor wildem Widerstreben. Ihr Körper schien mehr Verstand zu haben als sie selbst. Nein-tu-es-nicht-nein-tu-es-nicht-nein-tu-es-nicht-nein-tu-es-nicht, pochte ihr rasender Puls.
    Jenny ergriff den Türknauf. Das Hämmern wurde zu einem Schreien. Das Pochen zu einem Brüllen.
    Nein, tu es nicht. Tu-es-nicht-tu-es-nicht. Tu. Es. Nicht!
    Sie riss die Tür auf.
    Eis und Schatten.

    Das war alles, was sie sah. Der Wandschrank war breit und sehr tief und das Innere war eine wabernde, schäumende Mischung aus Weiß und Schwarz. Frost bedeckte die Wände, Eiszapfen hingen wie Zähne von der Decke. Eine Böe eiskalten Windes peitschte ihr entgegen und ließ sie frösteln, als sei sie in arktisches Gewässer gestoßen worden. Ihre Fingerspitzen wurden taub, die Haut darauf schrumpelte.
    Es war so kalt, dass es ihr den Atem verschlug und sie erstarrte. Der eisige Glanz blendete sie.
    Und mehr als dass sie es sah, ahnte sie, was im Zentrum dieses Wirbelstroms aus Eis und Schatten lauerte.
    Augen.
    Dunkle Augen, beobachtende Augen, höhnische, grausame, erheiterte Augen. Uralte Augen. Jenny erkannte sie. Es waren die Augen, die sie manchmal genau in dem Moment sah, in dem sie einschlief oder aufwachte. Die Augen, die sie mitten in der Nacht in ihrem Zimmer sah.
    Augen in den Schatten. Böse, hasserfüllte, wissende Augen.
    Ein Paar unter ihnen war unbeschreiblich schön und blau.
    Sie hatte nicht genug Luft, um zu schreien; ihre Lungen rebellierten gegen den eisigen Wind, den sie einzuatmen versuchte. Aber sie musste schreien – sie musste irgendetwas tun –, denn sie kamen heraus. Die Augen kamen heraus.
    Es war, als kämen sie aus sehr weiter Ferne auf sie zugeeilt, als ritten sie auf dem Sturm. Sie musste sich bewegen
 – sie musste rennen. Die glitzrig-schwarzen Augen der außerirdischen Besucher, die schräg stehenden Augen der dunklen Elfen – auch wenn Jenny diese Augen schon für Furcht einflößend gehalten hatte, so waren sie nichts im Vergleich zu denen, die sie jetzt sah, nichts als schwächliche, schäbige Imitationen. Vampire, Aliens, Werwölfe, Ghule – alles, was sich je ein Mensch ausgedacht hatte, um andere das Fürchten zu lehren, war nichts im Vergleich zu diesen Augen. Alles nur Geschichten, dazu erfunden, die wahre Angst zu verbergen.
    Das wahre Entsetzen, das in der Dunkelheit kam, von dem jeder wusste – und das jeder vergaß. Nur manchmal, wenn man zwischen Träumen aufwachte, dämmerte einem die volle Erkenntnis. Und selbst dann erinnerte man sich selten daran, und wenn, dann tat man es am nächsten Morgen ab. Denn dieses Wissen konnte bei Tag nicht überleben. Nur bei Nacht gelang es den Menschen manchmal, die bittere Wahrheit zu erfassen. Dass die Menschen nicht allein waren.
    Sie teilten die Welt mit ihnen.
    Den Anderen.
    Den Wächtern.
    Den Jägern.
    Den Schattenmännern.
    Denjenigen, die sich frei durch die menschliche Welt bewegten und die noch eine andere, eigene Welt hatten. Je nach Zeitalter hatten sie unterschiedliche Namen getragen, aber ihre wahre Natur war immer klar.

    Sie erwiesen Gefälligkeiten – manchmal. Aber sie verlangten immer eine Gegenleistung – zumeist mehr, als man leisten konnte.
    Sie mochten Spiele, Rätsel und dergleichen. Aber sie waren

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