Die Gejagte
Eine unbeholfene, warme Hand auf ihrer Schulter. Michael. Sie alle waren um sie herum und sie alle versuchten zu helfen.
»Wir haben unsere Albträume gemeinsam mit dir durchgestanden« , sagte Audrey sanft. »Es ist nicht fair, dass du dich deinem Albtraum allein stellen musstest.«
Jenny schüttelte den Kopf. »Ihr versteht nicht. Eure Albträume handelten von Dingen, vor denen ihr Angst hattet, dass sie vielleicht passieren könnten. Meiner ist passiert – meinetwegen. Es war alles echt. Und es war meine Schuld.«
»Erzähl uns davon«, sagte Dee mit ernstem, schönem Gesicht.
»Er war ein Magier«, begann Jenny. Dann sah sie Zach an. »Du meinst, die ganze Zeit über dachten alle, dass er versucht hätte, mir etwas anzutun?«
»Was sollten sie denn sonst denken?«, fragte Zach. »Du lagst fast im Koma, völlig unter Schock. Du hast nur geschrien, wenn jemand versucht hat, dich anzufassen, aber du wolltest nicht reden. Und er war fort. Unsere Familie hat angenommen, dass er weggelaufen war, sobald er begriffen hatte, was er dir antun wollte. Und als sie sich hier umgesehen haben« – Zach schaute sich selbst im Keller um und schnaubte –, »nun, da wussten sie, dass er verrückt war. Paranoid. Es hat sich herausgestellt, dass es sich bei all diesem Müll um …«
»Schutzamulette gehandelt hat«, beendete Jenny seinen Satz.
»Richtig. Ich meine, was für ein Spinner sammelt denn schon dieses Zeug? Tausende von Dingen von überall auf der Welt. Und er hatte haufenweise Bücher über das Okkulte, lauter Müll …«
»Er war ein Magier«, wiederholte Jenny. »Kein schwarzer Magier. Vielleicht auch kein weißer, aber auf keinen Fall ein schwarzer. Er wollte nichts Böses tun. Er war nur – ein bisschen naiv. Er hat gar nicht erst in Betracht gezogen, dass ein Missgeschick passieren könnte … wie etwa dass eine Fünfjährige eines Tages, an dem er nicht mit ihr gerechnet hatte, hier herunterkam und eine Tür öffnete, von der sie eigentlich wusste, dass sie sie nicht anfassen sollte.«
»Diese Tür?« Dee betrachtete den leeren Wandschrank.
Jenny nickte.
»Aber was war in dem Schrank? Ein Ungeheuer?«
»Julian.«
Alle starrten sie an.
Jenny schluckte den schlechten Geschmack in ihrem Mund herunter. »Mein Großvater wollte – nun, ich schätze, er wollte das Gleiche wie diese deutschen Jungs im Wald.« Sie sah Audrey an. »Macht. Oder vielleicht war er einfach nur neugierig. Er wusste, dass dort draußen in der Dunkelheit – Etwas ist, und er hat Kontakt aufgenommen. Vielleicht hat er Runen benutzt, um dieses Etwas, diese Dinge, hervorzurufen und zu fangen, ich weiß
es nicht. Aber ich weiß, dass er eine Rune benutzt hat, um sie abzuhalten. Auf dieser Tür.«
»Und wie genau«, fragte Michael ungewöhnlich grimmig, »würdest du dieses Etwas nennen, ich meine, diese Dinge, die er gefangen hat?«
»Aliens«, antwortete Jenny und sah Dee an. »Dunkle Elfen«, fügte sie hinzu und sah Audrey an. »Dämonen«, sprach sie weiter und drehte sich zu Michael um. »Die Schattenmänner«, sagte sie zu Zach.
Dee pfiff zischend durch die Zähne.
Jenny war in ihrer Aufzählung gar nicht mehr zu bremsen. »Dakaki. Der Erlkönig. Die alten Götter. Das Elfenvolk …«
»Okay«, unterbrach Michael sie heiser. »Das reicht schon.«
»Es gibt sie wirklich, sie alle«, fuhr Jenny fort. »Sie sind immer schon hier gewesen – wie Flaschengeister, wisst ihr? Die alte Bezeichnung für einen Flaschengeist war Dschinn und in seinen Notizen nannte mein Großvater diese Geister Aljunnu . Dschinn – Aljunnu – Julian – kapiert? Es war ein Scherz. Sie spielen gern mit uns …«
Ihre Stimme wurde immer lauter. Sie spürte, wie sie von allen Seiten festgehalten wurde, aber sie fuhr fort.
»Er hat sie gefangen gehalten – aber ich habe sie herausgelassen, und das hat alles verändert. Sie sagten, sie hätten das Recht, mich zu holen. Aber er ist an meiner Stelle gegangen, er hat es für mich getan.« Sie brach ab.
»Wenn wir das hier durchstehen wollen«, sagte Dee,
»müssen wir stark sein. Wir müssen zusammenhalten. In Ordnung?«
»Richtig«, bestätigte Audrey als Erste. Als Jenny den Blick senkte, bemerkte sie, dass Audreys perfekt lackierte Fingernägel zwischen Dees schlanken, dunklen Fingern hervorblitzten. Beide Mädchen hielten einander an den Händen, hielten einander fest. Hielten Jenny fest.
»Richtig«, bekräftigte Zach, ohne zu zögern, ohne die kühle Distanz in seinen
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