Die Gejagte
unzuverlässig – launisch. Und alles, was sie an Gutem taten, glichen sie mit unberechenbar Bösem aus.
Sie lauerten Menschen auf. Wenn Leute die Zeit vergaßen, waren sie dafür verantwortlich. Wenn Leute verschwanden, lachten sie. Und wer sich in ihre Welt verirrte, fand im Allgemeinen nicht mehr zurück.
Sie hatten Macht. Es war keine gute Idee, auch nur einen Blick auf sie erhaschen zu wollen – oder gar sie fangen zu wollen. Schon zu große Neugier auf sie konnte tödlich sein.
Und da war noch etwas. Sie waren herzzerreißend schön.
All das schoss Jenny binnen Sekunden durch den Kopf. Sie brauchte nicht zu überlegen. Sie wusste es . Es war, als sei ein Schleier von ihrem Verstand geweht worden, und jetzt sah sie die komplette Wahrheit, das große Ganze. Alles, was sie denken konnte, war: Das ist es also. Jetzt erinnere ich mich.
Die Augen kamen immer noch auf sie zu. Der Wind peitschte ihr loses Haar ums Gesicht, ihr Atem gefror zu Eis. Sie konnte sich nicht bewegen.
»Jenny!«
Eine schreckliche Stimme rief ihren Namen. Noch bevor sie sich umdrehen konnte, wurde sie um die Taille gepackt und hochgehoben – hochgehoben, als sei sie fünf Jahre alt und nur siebenunddreißig Pfund schwer.
»Grandpa«, stieß sie hervor und schlang ihm die Arme um den Hals.
Er war kleiner, als sie es in Erinnerung hatte – und sein müdes, freundliches Gesicht zeigte einen Ausdruck grauenvollen Entsetzens. Jenny versuchte, sich an ihn zu klammern, aber er wirbelte sie herum und stieß sie hinter das Bücherregal.
»Nauthiz! Nauthiz!«, rief er.
Er versuchte, die Tür des Wandschranks zu schließen, und zeichnete mit einem spitzen Finger die Rune auf der Vorderseite nach. Während er das X nachzeichnete, wurden seine peitschenden Bewegungen immer heftiger, und seine Stimme war das Schrecklichste, was Jenny je gehört hatte. »Nauthiz!«
Doch die Tür wollte sich nicht schließen. Die Rufe des alten Mannes wurden zu Schreien der Verzweiflung.
Da schoss ein weißes Licht heraus. Ein weißer Sturm, voller Ranken und Nebelschwaden. Dunkle Strähnen verwoben sich mit dem Weiß. Die Ranken wanden sich um Jennys Großvater.
Jenny versuchte zu schreien. Und konnte nicht.
Mit seiner ganzen Gewalt peitschte der Wind ihrem Großvater durch das spärliche Haar. Seine Kleider kräuselten sich. Frost überzog die Decke, wanderte zum Schreibtisch hinunter, zu den Fenstern, breitete sich aus und überwucherte die Wände mit Eisblumenkälte.
Die Tränen in Jennys Augen gefroren. Sie schien gefangen in der Gestalt einer verängstigten Fünfjährigen.
Sie konnte sich nicht dazu überwinden, zu ihrem Großvater zu gehen.
Die Stimmen, die aus dem Nebel kamen, waren so kalt wie der Sturm. Wie Glocken aus Eis.
»Wir werden uns nicht zurückschicken lassen …«
»Du kennst die Gesetze …«
»Wir haben jetzt einen Anspruch …«
Und die Stimme ihres Großvaters war voller verzweifelter Angst. »Alles andere. Ihr könnt alles andere haben …«
»Sie hat die Rune gebrochen …«
» … uns freigelassen …«
» … und wir wollen sie.«
Und dann riefen alle Stimmen im Chor: »Gib sie uns.«
»Ich kann nicht!« Es war fast ein Stöhnen.
»Dann werden wir sie holen …«
»Wir werden sie umarmen …«
»Nein, lasst sie uns behalten«, sagte eine Stimme voller elementarer Musik. Wie Wasser, das über Felsen rauscht. »Ich will sie.«
»Wir alle wollen sie …«
» … wir haben alle Hunger .«
»Nein«, keuchte Jennys Großvater.
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das zu verhindern. Trefft eine neue Vereinbarung«, sagte eine Stimme, so kalt wie eine berstende Eisscholle.
Das Kinn von Jennys Großvater bewegte sich und er wich etwas zurück. »Du meinst …«
»Ein Leben für ein Leben.«
»Jemand muss ihren Platz einnehmen.«
»Komm schon, das ist nur fair.«
Die Stimmen waren einschmeichelnd, überredend. Böse. Nur die Wasserstimme schien Einwände zu haben.
»Aber ich will sie …«, argumentierte sie.
»Ah, die Jugend«, sagte eine gletscherkalte Stimme gedehnt, und sie alle lachten. Ein Klang wie Weihnachtsglocken.
»Ich bin bereit«, erklärte Jennys Großvater.
»Nein!«, schrie Jenny. Endlich konnte sie sich bewegen – aber es war zu spät. Sie erinnerte sich: Sie hatte hinter dem Bücherregal gekauert, wahrscheinlich war der Verstand einer Fünfjährigen sogar besser in der Lage gewesen, mit der Realität der Schattenmänner fertig zu werden, als der eines Erwachsenen. Die
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