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Die Gejagte

Die Gejagte

Titel: Die Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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Schattenmänner waren wie die Ungeheuer, die alle Fünfjährigen erschrecken. Der schwarze Mann. Die bösen Dinge. Und sie hatten ihren Großvater geholt.
    Dann war sie aufgesprungen und gerannt, ebenso wie sie jetzt rannte. Auf den Wandschrank zu. In die weißen Ranken aus Nebel, die sich um ihren Großvater legten, in den Eissturm aus Augen. Sie hatte ihren Großvater schreien gehört an jenem Tag, an dem der Sturm ihn mit sich gezerrt hatte. Sie hatte nach ihm gegriffen und seine rudernde Hand zu fassen bekommen. Sie hatte ebenfalls geschrien, geradeso wie sie jetzt schrie, und der eisige Wind hatte um sie herum geheult, voller wütender, böser, heißhungriger Stimmen.

    Es war ein grauenvolles Tauziehen gewesen, damals wie jetzt. Sie, Jenny, die sich mit aller Macht an die Hand ihres Großvaters klammerte, gegen die anderen, die ihn in diesem Eissturm mit sich wegzogen. In die Tiefen eines Wandschranks hinein, eines endlosen Tunnels, der in eine andere Welt führte.
    Natürlich hatte sie keine Chance gehabt. Sie wurde über den Boden gezerrt, ihre Kleider waren zerrissen, sie hatte ihre Flipflops verloren und ihre nackten Füße schrammten über Eis.
    An der Hand ihres Großvaters wurde sie in die schwarze Kälte mit hineingezogen.
    Dann schlug ihr Großvater ihre Hände weg.
    Er schlug und kratzte und entwand sich ihrem Griff. Jenny fiel zu Boden, kaltes Eis unter ihren nackten Beinen. Sie lag direkt vor der offenen Runentür und beobachtete das schreiende, wirbelnde Windrädchen, das ihr Großvater gewesen war und jetzt in einer weißen Wolke verschwand. Die weiße Wolke wurde immer kleiner und kleiner, bis auch sie verschwunden war und nichts als ein Wandschrank übrig blieb.
    Das Heulen des Windes verebbte, der Keller war leer, und Jenny blieb allein und schluchzend in der Stille zurück.

»Jenny?« Dees Stimme klang zögerlich. »Jenny, ist alles in Ordnung mit dir?«
    Ich hatte so einen seltsamen Traum, dachte Jenny, aber als sie die Hände vom Gesicht nahm, war es real. Sie saß auf dem Boden im Keller ihres Großvaters, in einer eiskalten Wasserpfütze. Dee, Audrey, Zach und Michael standen in einer anderen Pfütze und sahen sie an.
    »Ich hab die drei im Flur gefunden«, berichtete Zach.
    »Wir sind einen Schacht hinuntergefallen«, erklärte Michael. »Plötzlich war einfach dieses Loch da und – schwupps – waren wir zurück im Erdgeschoss.«
    »Es war wie eine Rutsche«, ergänzte Dee. »Und dann mussten wir den ganzen Weg hierher wieder hinaufgehen.«
    »Wir sind deiner Buntstiftspur gefolgt und sie endete vor einer Tür«, berichtete Zach weiter. »Wir haben auf den Knopf gedrückt und …«
    »Die Tür hat uns eingelassen«, fiel Audrey energisch ein, als er abbrach. »Aber es sieht so aus, als sei bereits etwas passiert.«
    »Mein Albtraum«, erwiderte Jenny. Sie hatte große Mühe, in die Gegenwart zurückzukehren. Die Fünfjährige in ihrem Kopf erschien ihr viel wirklicher als die Sechzehnjährige,
mit der diese Menschen sprachen. Dee, Michael und Audrey sahen aus wie Fremde.
    Nur Zach nicht, denn Zach war da gewesen, damals mit fünf Jahren.
    Vielleicht verstand Zach dies alles hier. In jedem Fall kniete er sich neben sie auf den Boden, ohne auf die Pfütze zu achten, die seine Jeans durchweichte.
    »Was ist passiert?«, fragte er und schenkte ihr einen beruhigenden Blick aus seinen grauen Augen.
    »Ich hab verloren«, antwortete Jenny mit einem seltsam entrückten Gefühl. »Ich habe es vermasselt. Ich konnte ihn nicht retten. Ich hab verloren.«
    »Es geht irgendwie um Grandpa Evenson, nicht wahr?«
    »Was weißt du darüber?«
    Zach zögerte, dann sah er sie offen an und sagte: »Nur das, was meine Eltern mir erzählt haben. Sie sagten, er – wäre an diesem Tag verrückt geworden. Er habe versucht – nun ja, dir wehzutun.«
    Der Schock riss Jenny aus ihrer Benommenheit. »Was?«
    »Sie haben dich hier gefunden im Keller, deine Kleider waren total zerrissen und deine Arme völlig zerkratzt. Deine Beine und Füße haben geblutet …«
    »Von dem Eis«, flüsterte Jenny. »Ich bin über das Eis gezerrt worden. Und er hat meine Hände zerkratzt, damit ich ihn loslasse. Sie haben ihn geholt. Er hat ihnen erlaubt, ihn zu holen statt mich.«
    Dann schluchzte sie plötzlich wieder. Sie spürte eine Bewegung und im nächsten Moment legte sich ein schlanker,
starker Arm um sie. Dee. Ein Rascheln und eine kühle Hand auf ihrem Handgelenk. Audrey, ohne auf ihr elegantes Outfit zu achten.

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