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Die Gejagte

Die Gejagte

Titel: Die Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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stöhnend in sich zusammengekauert; Michael, der schrie; Summers blauweiße Lippen; Zachs glasige graue Augen. Sie alle waren wie von Sinnen gewesen vor Angst. War Jennys Albtraum schlimmer als ihrer?
    Ja, ich glaube schon, flüsterte die kleine Stimme in ihrem Kopf.
    Der Singsang hatte sich verändert; statt Erinnere dich nicht, erinnere dich nicht wiederholte die Stimme immer und immer wieder: Erinnere dich, erinnere dich …
    Vielleicht wird mir das helfen, sagte Jenny sich und war plötzlich ziemlich ruhig. Mit dem Gefühl, sich endlich ihrem Schicksal zu stellen, griff sie nach einem in Leder gebundenen Buch auf dem Schreibtisch und begann, es durchzublättern.
    Es war so etwas wie ein Tagebuch. Oder zumindest ein Bericht über eine Art von Experiment. An manchen Stellen verfiel die starke Handschrift ihres Großvaters in Gekritzel, aber gewisse Sätze ragten deutlich hervor.

    »… von allen Methoden aus den verschiedensten Kulturen scheint dies die sicherste zu sein … die Rune Nyd oder Nauthiz beschert ewige Zurückhaltung, verhindert das Reisen in jedwede Richtung … die Rune muss gemeißelt, dann mit Blut befleckt und schließlich mit Macht aufgeladen werden, indem man ihren Namen laut ausspricht …«
    Jenny blätterte einige Seiten weiter.
    »… interessante Abhandlung über die traditionellen Methoden, mit einem Dschinn umzugehen, oder, wie die Hausa sie nennen, den Aljunnu. Wie irgendjemand auf die Idee kommen konnte, dies könne mit einer Flasche bewerkstelligt werden, übersteigt mein Verständnis … ich glaube, der Raum, den ich vorbereitet habe, ist gerade eben ausreichend, um die daran beteiligten gewaltigen Energien zu beherbergen …«
    Gütiger Himmel, er klang genau wie ein Wissenschaftler. Ein verrückter Wissenschaftler. Sie blätterte noch einige Seiten weiter.
    »… ich habe die Beherrschung erreicht! Ich bin sehr zufrieden … narrensichere Methoden … nicht die geringste Gefahr … ungeheure Kräfte, die ich nutzbar gemacht habe … alles in vollkommener Sicherheit …«
    Gegen Ende klemmte etwas zwischen den Seiten wie ein Lesezeichen. Es war ein Bogen vergilbten, brüchigen Papiers, der sehr alt aussah. Die Schrift darauf war ganz anders als die ihres Großvaters – dünn und zittrig –, und ein Teil davon wurde von rostbraunen Flecken verdeckt.

    Es war ein Gedicht. Ohne Titel, aber mit dem Namen des Verfassers. Johannes Eckhart. Das Datum, 1943, war an den oberen Rand gekritzelt worden.
     
    Über glitschige Steine rutsche ich
Zu dem dunklen Ort, von rostrot glühendem Holz
erleuchtet,
Wo sie liegen, alte Knochen betrachten und betasten,
Mit meiner Frage.
Das Rätsel nehme ich mit in die tiefste Grube des
Schwarzwaldes,
Wo der Erlkönig herrscht und die Wahrheit
verborgen ist.
Sie zu verkünden, hat stets ihren Preis.
Wie die anderen Irren, die über dieselben Steine
rutschten, spielten und verloren, komme ich.
Ich muss. Denn ich habe keine Wahl.
Das Spiel ist zeitlos und …
     
    Der Rest war durch die rostbraunen Flecken unkenntlich, bis auf die beiden letzten Zeilen:
     
    Ich lasse sie da unten warten.
    Und höre sie lachen, wenn ich verschwinde.
     
    Jenny lehnte sich zurück und atmete tief aus.
    Offensichtlich hatte dieses Gedicht ihren Großvater so sehr beeindruckt, dass er es all die Jahre aufgehoben hatte.
Sie wusste, dass ihr Großvater im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte – er war in einem deutschen Kriegsgefangenenlager gewesen. Vielleicht hatte er damals diesen Johannes Eckhart kennengelernt. Und vielleicht hatte dieser Johannes Eckhart ihn ins Grübeln gebracht …
    Jetzt hatte sie alle Teile des Puzzles beisammen. Aber sie sträubte sich dagegen, sie zusammenzusetzen. Sie konnte nur darüber nachdenken, welchen Schritt sie als Nächstes in diesem Drama tun würde. In diesem Drama, in dem sie die Hauptrolle spielte.
    Den letzten Schritt, dachte sie.
    Das geisterhafte kleine Mädchen mit den Flipflops war verschwunden, Jennys innerer Film gestoppt. Aber Jenny versuchte erst gar nicht, ihn wieder in Gang zu setzen. Endlich konnte sie den unwiderstehlichen Sog einer realen Erinnerung spüren, und sie wusste, was sie tun musste.
    Sie trat zurück, um sich das dritte Bücherregal anzuschauen.
    Es war ein massives Regal aus solidem Mahagoniholz und es stand an derselben Wand wie der Schreibtisch. Aber es war etwas verschoben, an einer Ecke vorgezogen worden. Der staubige Abdruck auf der dahinter liegenden Wand zeigte deutlich, wo es

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