Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
stieg.
Joséphine blies eilends zum Aufbruch und scheuchte ihre beiden Töchter so schnell wie möglich zum Wagen 33, der sich an der Spitze des Zuges befand.
»Warten wir nicht auf Iris und Alexandre?«, fragte Zoé mürrisch. »Ich hab Kopfweh, Maman, ich hab zu viel Champagner getrunken.«
»Wir warten im Zug auf sie. Ihre Plätze sind ohnehin reserviert, sie kommen gleich nach. Los, beeilt euch«, drängte Jo in entschlossenem Ton.
»Und was ist mit Philippe? Kommt er nicht mit?«, erkundigte sich Hortense.
»Er muss noch arbeiten und kommt morgen nach.«
Ihre Koffer hinter sich her zerrend und die Nummern der Wagen entziffernd, an denen sie vorbeirannten, entfernten sie sich immer weiter von der verhängnisvollen Stelle, wo Chef Josiane umarmte.
Jo drehte sich noch ein letztes Mal um und erblickte in der Ferne Iris und Alexandre, die gerade angerannt kamen.
Sie richteten sich auf ihren Plätzen ein, und der Zug setzte sich in Bewegung. Hortense zog ihre Daunenjacke aus, faltete sie sorgfältig zusammen und legte sie flach in die Ablage über ihren Köpfen. Zoé und Alexandre begannen einander sofort vom Vorabend zu berichten. Dabei schnitten sie so viele Grimassen, dass Iris die Geduld verlor und sie streng zurechtwies.
»Ich schwöre dir, sie werden noch komplett verblöden. Wie siehst du denn aus, Jo? Du bist ja völlig entstellt! Hast du Judo gemacht? Glaubst du nicht, du bist mittlerweile zu alt für so etwas?«
Nachdem der Zug losgefahren war, nahm sie Jo beiseite.
»Komm, wir gehen einen Kaffee trinken.«
»Jetzt sofort?«, fragte Jo, die fürchtete, im Speisewagen auf Josiane und Chef zu treffen.
»Ich muss unbedingt mit dir reden. So schnell wie möglich!«
»Aber wir können doch auch hier reden.«
»Nein«, zischte Iris mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich will nicht, dass die Kinder etwas davon mitbekommen.«
Jo erinnerte sich daran, dass Chef und ihre Mutter Weihnachten in Paris verbrachten. Er war also nicht in den Zug gestiegen. Und so gab sie nach und folgte Iris. Sie würde den Teil der Fahrt verpassen, den sie am liebsten mochte: Wenn der Zug die Pariser Vororte durchquerte, wie ein stählerner Pfeil in eine Landschaft aus Einfamilienhäusern und kleinen Bahnhöfen eindrang und immer schneller und schneller wurde. Sie versuchte, die Namen der Bahnhöfe zu entziffern. Anfangs gelang es ihr noch, dann verpasste sie jeden zweiten Buchstaben, und schließlich schwirrte ihr so der Kopf, dass sie überhaupt nichts mehr lesen konnte. Dann schloss sie die Augen und entspannte sich: Die Reise konnte beginnen.
Sie lehnten an der Theke des Speisewagens. Iris stützte sich mit den Ellbogen auf und rührte unablässig mit dem kleinen Plastiklöffel in ihrem Kaffee herum.
»Stimmt was nicht?«, fragte Jo verwundert, weil sie so mürrisch und nervös wirkte.
»Ich stecke in der Scheiße, Jo, ich stecke bis zum Hals in der Scheiße!«
Jo antwortete nicht, sondern dachte nur, dass sie damit nicht allein war. In zwei Wochen geht mir das Geld aus. Und zwar exakt am fünfzehnten Januar.
»Und du bist die Einzige, die mir da wieder raushelfen kann!«
»Ich?«, fragte Joséphine verblüfft.
»Ja… du. Also hör mir jetzt zu und unterbrich mich nicht. Es ist schwer genug zu erklären, und wenn du mich dabei auch noch unterbrichst …«
Joséphine nickte. Iris trank einen Schluck Kaffee, richtete ihre großen blauvioletten Augen auf ihre Schwester und begann: »Erinnerst du dich daran, dass ich vor einiger Zeit behauptet habe, ich würde einen Roman schreiben?«
Stumm nickte Joséphine erneut. Iris’ Augen hatten immer die gleiche Wirkung auf sie: Sie war wie hypnotisiert. Am liebsten hätte sie sie gebeten, den Kopf ein wenig zur Seite zu drehen, sie nicht so unverwandt anzustarren, aber Iris bohrte ihren tiefen, vor Intensität beinahe schwarzen Blick in Jos Augen. Ihre langen Wimpern fügten einen Hauch von Grau oder Gold hinzu, je nachdem, wie sie beim Heben oder Senken das Licht einfingen.
»Also gut, ich werde ihn schreiben!«
Erstaunt zuckte Joséphine zusammen.
»Das ist doch eine gute Nachricht.«
»Unterbrich mich nicht, Jo, unterbrich mich nicht! Glaub mir, ich brauche all meine Kraft, um zu sagen, was ich dir zu sagen habe, denn das ist nicht gerade leicht.«
Sie holte tief Luft, stieß sie gereizt wieder aus, als habe sie ihr die Lungen versengt, und fuhr fort: »Ich werde einen historischen Roman schreiben, der im zwölften Jahrhundert spielt, genau wie ich es an jenem
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