Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
wieder darüber …«
Joséphine spürte ein freudiges Kitzeln in ihrem Bauch. Fünfzigtausend Euro! Genug für … sie rechnete hastig nach … mindestens dreißig Raten! Dreißig Monate Aufschub! Dreißig Monate, in denen sie nachts schlafen und tagsüber Geschichten erzählen könnte. Sie hatte den Mädchen so gern Geschichten erzählt, als sie noch klein waren, sie verstand sich darauf, Rollo, König Artus, Heinrich, Eleonore und Énide zum Leben zu erwecken! Sie auf Bällen herumwirbeln zu lassen, bei Turnieren, in Schlachten, in Burgen und Intrigen …
»Nur ein einziges Mal? Ganz sicher?«
»Nur ein einziges Mal! Sonst werde ich vom knurrigen Knuck geknackt …«
Als der Zug in den Bahnhof von Lyon einfuhr – Lyon-Perrache, drei Minuten Aufenthalt –, seufzte Joséphine. »Einverstanden, aber nur ein einziges Mal … das musst du mir versprechen, Iris, ja?«
Iris versprach es. Nur ein einziges Mal. Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen …
Dritter Teil
N un musste sie also schreiben!
Sie konnte nicht mehr zurück. Kaum hatte sie Ja gesagt im Bahnhof Lyon-Perrache – Lyon-Perrache, drei Minuten Aufenthalt –, da hatte Iris geflüstert: »Danke, Schwesterchen, du kannst dir nicht vorstellen, aus welchem Schlamassel du mir damit heraushilfst! Mein Leben ist verpfuscht, einfach nur verpfuscht, aber jetzt ist es zu spät, ich kann nicht mehr von vorn anfangen, ich kann nur noch retten, was zu retten ist, versuchen, aus dem Rest etwas zu machen. Ich muss mich mit dem Gedanken abfinden, dass ich nur noch Schadensbegrenzung betreibe! Das ist nicht gerade glanzvoll, zugegeben, aber so sieht’s nun mal aus.«
Sie hatte sie umarmt, dann hatte sie sich zusammengerissen und sie mit ihren blauen, von dunklen Schatten verhangenen Augen angesehen. »Du wirst hübsch, Joséphine, immer hübscher, wirklich schön, diese blonden Strähnchen, bist du verliebt? Nein? Das kann nicht mehr lange dauern, ich prophezeie dir Schönheit, Talent und Wohlstand«, hatte sie hinzugefügt und dabei mit den Fingern geschnipst, als fordere sie das Schicksal heraus. »Du wirst an meine Stelle treten. Ich habe bei meiner Geburt vieles mitbekommen, mehr als du, das stimmt, aber ich habe das Leben ausgepresst wie eine Zitrone, und jetzt bleibt mir nur noch eine vertrocknete Schale, der ich ein bisschen Geschmack zu entlocken versuche. Eine Weile hatte ich gehofft, ich könnte Regie führen, schreiben … Weißt du noch, Jo? Vor langer Zeit … da hatte ich Talent … Alle sagten, Iris ist begabt, sie ist eine Künstlerin, sie wird es weit bringen, sie wird in Hollywood Erfolg haben! Hollywood!« Sie lachte bitter. »So weit bin ich nie gekommen! Ich musste den Tatsachen ins Auge sehen: Ich bin vielleicht begabt, aber zur wahren Kunst reicht es nicht. Zwischen Idee
und Umsetzung klafft ein Abgrund, den ich nicht überwinden kann, und ich stehe blöd an der Kante und schaue in die Tiefe. Ich will ja schreiben, ich will es unbedingt, in meinem Kopf flackern die Anfänge von Geschichten wie Blinklichter, aber sobald ich mich über die Wörter beuge, laufen sie auf ihren kleinen, klebrigen Beinchen wie eklige Küchenschaben davon! Aber du … Du wirst sie einfangen, du wirst sie zu schönen Sätzen zusammenfügen, ohne dass sie sich gleich wieder aus dem Staub machen. Du kannst so gut Geschichten erzählen … Ich erinnere mich noch an die Briefe, die du mir immer aus dem Ferienlager geschickt hast. Ich habe sie meinen Freundinnen vorgelesen, und sie haben dich Madame de Sévigné genannt!«
Joséphine war gerührt über Iris’ unerwartete Offenheit. Ihre Prophezeiungen hatten sie in Hochstimmung versetzt, und mit einem Mal hatte sie sich wichtig gefühlt. Wichtig, aber unwillkürlich auch bedroht. Iris’ hochtrabende Worte beflügelten sie und ließen gleichzeitig eine Alarmglocke schrillen: Wäre sie ihrer Rolle als fantasievolle Ghostwriterin auch gewachsen? Sie konnte wissenschaftliche Arbeiten verfassen, Vorträge, akademische Aufsätze, und sie erzählte gern Geschichten, aber es bestand doch ein erheblicher Unterschied zwischen den Epen, die sie am Bett ihrer Töchter ausbreitete, und dem historischen Roman, den Iris ihrem Verleger versprochen hatte. »Und mach dir keine Gedanken über die Logistik«, riss Iris sie aus ihrer Benommenheit, »ich kaufe dir einen Computer und sorge für den Internetzugang.«
»Nein, nein, gib mir nichts, bevor ich mich nicht bewährt habe«, hatte Jo
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