Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Grund sollte ich denn sonst haben?«
»Eben. Das wüsste ich gern. Damals im Zug hast du gesagt, dass ich dir damit aus der Klemme helfen würde … Du hast sogar das Wort ›Schlamassel‹ benutzt, und darum habe ich mich gefragt …«
»Ach? Das habe ich gesagt?«
Und sie verzog das Gesicht, als hätte Joséphine eine unangenehme Erinnerung wachgerufen.
»Wortwörtlich … Und ich finde, ich habe ein Recht darauf zu wissen, worum es hier geht.«
»Findest du nicht, du übertreibst, Jo? Ein Recht darauf zu wissen, worum es hier geht!«
»Nein, das finde ich nicht … Ich nehme für dich eine gewaltige Plackerei auf mich, und ich finde es nur fair, wenn ich dabei die gleichen Karten in der Hand habe wie du.«
Iris musterte ihre jüngere Schwester. Joséphine veränderte sich! Sie wurde streitbarer, fordernder. Sie erkannte, dass Jo sich nicht mit leeren Worten abspeisen lassen würde, seufzte tief und sagte, ohne sie dabei anzusehen: »Es ist wegen Philippe … Ich habe den Eindruck, dass er sich immer mehr von mir abwendet, dass ich für ihn nicht mehr das achte Weltwunder bin … Ich habe Angst, dass er mich fallen lässt, und vielleicht kann ich ihn mit diesem Buch ja wieder neu verführen.«
»Weil du ihn liebst?«, fragte Joséphine hoffnungsvoll.
Iris bedachte sie mit einem Blick, in dem sich Mitleid und Ärger mischten.
»So könnte man es auch ausdrücken. Ich will nicht, dass er mich verlässt. Ich bin vierundvierzig Jahre alt, Jo, einen Mann wie ihn finde ich nicht mehr. Bald wird meine Haut faltig, mein Busen schlaff, meine Zähne werden gelb, und mein Haar wird schütter. Ich hänge an dem luxuriösen Leben, das er mir bietet, ich hänge an meiner Wohnung, an unserem Chalet in Megève, an den Reisen, am Luxus, an der goldenen Kreditkarte, an meiner Stellung als Madame Dupin. Du
siehst, ich bin ehrlich zu dir. Ich könnte es nicht ertragen, in ein banales, bescheidenes Leben zurückzusinken, ohne Geld, ohne Beziehungen, ohne Ausweg … Und vielleicht liebe ich ihn ja tatsächlich!«
Sie hatte ihren Teller beiseite geschoben und sich eine Zigarette angezündet.
»Seit wann rauchst du denn?«, fragte Joséphine.
»Das gehört zu meinem neuen Image! Ich übe noch. Josiane, Chefs Sekretärin, hatte noch ein altes Päckchen. Sie hat mit dem Rauchen aufgehört, also hat sie es mir geschenkt.«
Joséphine erinnerte sich an die Szene, die sie am Bahnsteig beobachtet hatte: Chef, der seine Sekretärin küsste und sie so ehrfürchtig in den Zug bugsierte, als hielte er das Allerheiligste Sakrament in den Händen. Sie hatte niemandem davon erzählt. Sie erschauerte und dachte an ihre Mutter: Was sollte aus ihr werden, wenn Chef sich von ihr scheiden ließ, um ein neues Leben zu beginnen?
»Hast du Angst, dass er dich verlassen könnte?«, fragte sie Iris leise.
»Das ist mir früher nie in den Sinn gekommen … aber seit einiger Zeit, ja, habe ich Angst davor. Ich spüre, dass er sich von mir entfernt, dass er mich nicht mehr mit den gleichen Augen sieht. Ich war sogar eifersüchtig darauf, wie gut ihr beide euch an Weihnachten verstanden habt. Er behandelt dich mit mehr Zuneigung und Respekt als mich …«
»Das ist doch Unsinn!«
»Leider nicht … Ich sehe durchaus klar. Ich habe viele Fehler, aber ich bin nicht blind. Ich merke, ob die Leute sich für mich interessieren oder nicht. Und ich hasse es, wenn ich ihnen gleichgültig bin.«
Sie beobachtete die Rauchkringel, die von ihrer Zigarette aufstiegen, und dachte an ihr Treffen mit Serrurier zurück. In dem kleinen Büro, in dem er sie empfangen hatte. Aus seinem Mund strömten Lobeshymnen, und seine Augen leuchteten vor Begeisterung. Sie hatte gespürt, wie sie auflebte. Er war beflissen und respektvoll gewesen. Er hatte eine dicke Zigarre geraucht, deren beißender Rauch das Büro erfüllte, während er die Wendungen von Joséphines Geschichte nachvollzog. »Sehr schön, dieses junge Mädchen, das sich ins Kloster zurückziehen möchte und stattdessen gezwungen wird zu heiraten. Sehr schön, wie sie mit jedem Ehemann ins Schwarze trifft, jedes Mal mit Gold und
Ruhm überhäuft wird und jedes Mal als Witwe endet. Sehr schön, diese Demut, die sie so beharrlich anstrebt und die sich ihr immer wieder entzieht, sehr schön, sie verschiedene soziale Schichten durchwandern zu lassen, sie mit einem Ritter, einem Troubadour, einem Prediger und einem Prinzen zu verheiraten …« Er lief im Büro auf und ab, sodass ihr ganz schwindlig
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