Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
den Fuß ins Wasser setzte, fiel Antoine plötzlich auf, dass er nicht einen Tropfen Alkohol getrunken hatte, seit die Mädchen da waren.
Henriette Grobz war auf dem Kriegspfad.
Sie stand vor dem Spiegel, hatte ihren Hut zurechtgerückt und steckte jetzt energisch eine lange Nadel quer durch das Filzgebilde, damit es auch gerade auf ihrem Kopf sitzen blieb und nicht beim ersten Windstoß davonflog. Dann strich sie ihre Lippen mit einem knallroten Lippenstift an, tupfte sich mit zwei Pinselstrichen dunkles Rouge auf die Wangen, heftete zwei Clips an ihre trockenen, faltigen Ohrläppchen und richtete sich auf. Sie war bereit für ihre Ermittlungen.
Es war der Morgen des 1. Mai, und an einem 1. Mai arbeitete niemand.
Niemand außer Marcel Grobz.
Er hatte ihr beim Frühstück verkündet, dass er ins Büro fahren und erst spätabends zurückkommen werde, sie brauche mit dem Essen nicht auf ihn zu warten.
Ins Büro?, hatte Henriette Grobz stumm wiederholt und den Kopf mit dem von verschwenderisch aufgesprühtem Lack verklebten Haar geneigt. Ihr Knoten war so straff, dass sie sich nicht liften zu lassen brauchte. Wenn sie ihn löste, alterte sie um zehn Jahre: Ohne die Nadeln sackte das kraftlose, schlaffe Fleisch nach unten. Ins Büro? An einem 1. Mai? Da stimmte doch etwas nicht. Es war die Bestätigung dessen, was sie bereits seit dem Vorabend ahnte.
Eine zweite Bombe, die der gutmütige Marcel ganz beiläufig platzen ließ, während er sein weiches Ei köpfte und einen schmalen Streifen
gebuttertes Baguette hineintunkte. Sie musterte diesen fetten, in viel zu enge Kleider gezwängten Mann, dem das Eigelb übers Kinn lief, und ihr wurde übel.
Die erste Bombe war am Vortag hochgegangen. Sie hatten an den entgegengesetzten Enden des langen Esstischs gesessen, während Gladys, ihre mauritische Haushälterin, das Abendessen servierte, als Marcel unvermittelt gefragt hatte: »Hattest du einen schönen Tag?«, wie er es jeden Abend tat, wenn sie zusammen aßen. Doch gestern Abend hatte er ein schlichtes Wort hinzugefügt, dessen Silben wie Maschinengewehrfeuer in ihren Ohren ratterten. Marcel hatte nicht nur »Hattest du einen schönen Tag?« gefragt, er hatte »Liebes« hinzugefügt!
»Hattest du einen schönen Tag, Liebes?«
Und anschließend hatte er sich in aller Seelenruhe wieder seinem Schmortopf mit Rindfleisch und Möhren zugewandt, ohne auf den Sturm zu achten, den er entfesselt hatte.
Es war mindestens zwanzig Jahre her, seit Marcel Grobz Henriette zum letzten Mal »Liebes« genannt hatte. Zum einen, weil sie ihm verboten hatte, sie in der Öffentlichkeit so zu nennen, und zum anderen, weil sie dieses bescheidene Wörtchen »grotesk« fand. »Grotesk«, so bezeichnete sie diesen Ausdruck ehelicher Zuneigung. Nachdem Marcel jedes Mal scharf zurechtgewiesen worden war, wenn er sich zu diesem Kosewort hatte hinreißen lassen, verwendete er inzwischen nur noch nüchternere Bezeichnungen wie »meine Liebe« oder schlicht »Henriette«.
Aber gestern Abend hatte er sie »Liebes« genannt.
Es war, als hätte ihr jemand mit einem Ochsenziemer ins Gesicht geschlagen.
Dieses »Liebes« war ganz offensichtlich nicht für sie bestimmt.
Die ganze Nacht über hatte sie sich schlaflos in dem großen Bett gewälzt, das sie früher miteinander geteilt hatten, und als sie um drei Uhr morgens aufgestanden war, um sich ein kleines Glas Rotwein zu holen, das ihr beim Einschlafen helfen sollte, hatte sie leise die Tür zu Chefs Zimmer geöffnet und festgestellt, dass das Bett unberührt war.
Noch ein Indiz!
Es kam hin und wieder vor, dass er nicht zu Hause übernachtete,
wenn er geschäftlich unterwegs war, aber diesmal war er nicht auf Geschäftsreise, er hatte mit ihr gegessen und sich anschließend in sein Zimmer zurückgezogen wie jeden Abend. Sie hatte das Zimmer betreten und das Licht eingeschaltet: Kein Zweifel, der Vogel war ausgeflogen, die Decken waren nicht einmal aufgeschlagen! Erstaunt hatte sie sich in dem kleinen Zimmer umgeschaut, das sie sonst nie betrat, hatte das schmale Bett betrachtet, das wacklige Nachttischchen, den billigen Teppich, die Lampe mit zerrissenem Schirm, Socken, die auf dem Boden herumlagen. Dann hatte sie das Badezimmer inspiziert: Rasierapparat, Aftershave, Kamm, Bürste, Shampoo, Zahnpasta und … und eine komplette Pflegeserie für Männer, Bonne Gueule von Nickel. Tagescreme, Pflegecreme für strapazierte Haut, Peeling, Gesichtspflege, Feuchtigkeitscreme, Augenpflege,
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