Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
bricht über dem leblosen Körper ihres Gemahls zusammen. Später wird man erfahren, dass er ein unehelicher Sohn des Königs von Frankreich war. Aus Angst, er könne seinen Anspruch auf die Krone geltend machen, hat der König es vorgezogen, ihn umbringen zu lassen. Um die junge Witwe zu trösten, überhäuft er sie mit Gold, Hermelinen und Edelsteinen und schickt sie unter dem Schutz von vier Rittern zurück nach Castelnau. Erneut Witwe geworden, fleht Florine
Gott an, sie nicht länger mit seinem Zorn zu strafen, damit sie in Frieden die letzten Stufen der Leiter erklimmen kann.
So, der Dritte wäre auch erledigt!, seufzte Joséphine, die sich mittlerweile in einen wahren Blutrausch geschrieben hatte. O ja, dachte sie zähneknirschend, als sie sah, wie viel Text sie innerhalb weniger Tage geschafft hatte, der Zorn ist eine tüchtige Muse und füllt die weißen Seiten mit Tausenden von Zeichen.
»Es scheint Ihnen ja wieder besser zu gehen«, stellte Luca in der Cafeteria der Bibliothek fest.
»Ich bin wütend, und das beflügelt mich!«
Er musterte sie. Etwas Rebellisches, Leidenschaftliches hatte sich über ihre Züge gelegt und verlieh ihr die Aura eines kampflustigen jungen Mädchens.
»Sie haben so etwas an sich … etwas Schalkhaftes und gleichzeitig Gerissenes!«
»Es tut wirklich gut, sich ein wenig gehen zu lassen. Ich bin sonst immer so schrecklich anständig! Eine gute Freundin, gute Schwester, gute Mutter…«
»Sie haben Kinder?«
»Zwei Töchter … Aber keinen Mann! Eine gute Ehefrau war ich offenbar nicht. Er ist mit einer anderen durchgebrannt.«
Sie lachte albern und errötete. So vertraulich hatte sie nicht werden wollen.
Sie hatten sich angewöhnt, zusammen Kaffee zu trinken. Er erzählte ihr von seinem Manuskript. »Ich schreibe diese Geschichte der Tränen für meine Zeitgenossen, die Empfindsamkeit mit Rührseligkeit verwechseln, die Tränen vergießen, um sich zur Schau zu stellen, um sich zu verkaufen, um eine schöne Seele vorzutäuschen, um Emotionen zu leben, die sie gar nicht fühlen. Ich will den Tränen ihre Erhabenheit wiedergeben, so wie sie einst Jules Michelet verstanden hat. Wissen Sie, was er geschrieben hat? ›Darin liegt das Mysterium des Mittelalters, das Geheimnis seiner nie versiegenden Tränen und sein unergründliches Genie. Kostbare Tränen flossen in klaren Legenden, in wunderbaren Gedichten, türmten sich auf in den Himmel und erstarrten zu gewaltigen Kathedralen, die sich dem Herrn entgegenreckten!‹« Er zitierte mit geschlossenen Augen, und
die Worte flossen wie Honig von seinen Lippen. Er zitierte Michelet, Roland Barthes und die Wüstenväter und verschränkte dabei die Finger wie zum Gebet.
Eines Nachmittags wandte er sich ihr zu und fragte: »Hätten Sie Lust, Samstagabend ins Kino zu gehen? In einem Kino in der Rue des Écoles läuft Wilder Strom , ein alter Film von Kazan, der in Frankreich so gut wie nie gezeigt wird. Ich dachte …«
»Gern«, antwortete Joséphine. »Sehr gern.«
Ihre begeisterte Reaktion schien ihn zu überraschen.
Sie hatte gerade etwas sehr Wichtiges erkannt: Wenn man schreibt, muss man die Türen zum Leben weit öffnen, damit es in die Worte hineinströmen und die Fantasie nähren kann.
Am Samstagabend gingen Luca und Joséphine ins Kino. Sie hatten sich vor dem Eingang verabredet. Joséphine kam zu früh. Sie wollte genug Zeit haben, um sich zu fassen und etwas selbstsicherer zu wirken, ehe Luca auftauchte. Jedes Mal, wenn er sie anschaute, wurde sie rot, und wenn sich ihre Hände zufällig berührten, schien ihr das Herz aus der Brust springen zu wollen. Ihre körperliche Reaktion auf seine Nähe verstörte sie. Bis zu diesem Tag waren ihre sexuellen Erfahrungen eher nichtssagend gewesen. Antoine hatte sich immer zärtlich um sie bemüht, aber er hatte in ihr nicht diese Hitze aufsteigen lassen, die ein einziger Blick von Luca entfachte. Ihr Innerstes war in Aufruhr. Nichts sollte sie vom Schreiben ihres Romans ablenken, doch gleichzeitig sehnte sie sich danach, dicht neben ihm in einem dunklen Saal zu sitzen. Was, wenn er den Arm um meine Schultern legt? Und wenn er mich küsst? Ich darf nicht zu schnell nachgeben, ich muss einen kühlen Kopf bewahren. Ich habe noch einen guten Monat harter Arbeit vor mir, und ich darf nicht trödeln. Oder mich in eine Liebelei verstricken. Florine braucht mich.
Joséphine war überrascht, wie leicht ihr das Schreiben von der Hand ging. Überrascht, wie viel Spaß es ihr
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