Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
bald weg, Max und ich« klang, und sich wieder ihrem Computer zugewandt. »Da is’n Neuer. Fragt mich, ob ich Anhang hab? Was meint der damit, wissen Sie das? Der ist ja pervers!«
Mit zusammengeschnürter Kehle ging Joséphine morgens in die Bibliothek. Und jedes Mal, wenn sie abends den Schlüssel ins Türschloss steckte, durchzuckte sie ein Gefühl der Panik. Nicht einmal der Mann im Dufflecoat konnte sie mehr aufheitern.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie lassen ja gar nichts mehr fallen«, hatte er tags zuvor gesagt.
Dann hatte er sie zu einem Kaffee eingeladen. Er war fasziniert von Religionsgeschichte. Er hatte ihr lange von heiligen Tränen erzählt, von profanen Tränen, ekstatischen Tränen, Freudentränen, als Opfer dargebrachten Tränen … und all die Tränen hatten sich in Joséphines Herz angesammelt, bis sie angefangen hatte zu weinen.
»Wusste ich’s doch, irgendwas stimmt nicht mit Ihnen … Wollen Sie noch einen Kaffee?«
Unter Tränen hatte Joséphine gelächelt.
»Was Sie da erzählen, ist ja auch nicht gerade komisch …«, hatte sie geantwortet und schniefend nach einem Taschentuch gesucht.
»Aber das müssen Sie doch kennen. Das zwölfte Jahrhundert ist eine sehr religiöse, sehr mystische Zeit. Klöster schossen wie Pilze aus dem Boden. Wanderprediger zogen durchs Land und verhießen den Menschen ewige Strafe, wenn sie sich nicht von allen Sünden reinwuschen.«
»Stimmt«, hatte sie geseufzt und ihre Tränen hinuntergeschluckt, denn sie hatte kein Taschentuch dabei.
Er musterte sie aufmerksam. Manchmal dachte sie, dass diese Geheimhaltung wohl das Schwierigste an ihrer Arbeit war. All die Energie, die sie fürs Schreiben aufwendete, all die Ideen, die ihr nachts kamen und sie nicht schlafen ließen, all die Geschichten, die sie erfand – nichts davon konnte sie mit jemandem teilen. Sie hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Schlimmer noch: Sie kam sich vor wie eine Kriminelle. Je häufiger Iris von ihrem »Trick« sprach, desto mehr war sie davon überzeugt, etwas Unrechtes zu tun. Das wird noch alles böse enden, fürchtete sie, wenn sie wieder einmal nachts wach lag. Man wird uns auf die Schliche kommen, und ich stehe da wie Madame Barthillet: mittellos und ohne ein Dach über dem Kopf.
»Sie dürfen sich das, was ich erzähle, nicht so zu Herzen nehmen«, hatte der Mann im Dufflecoat gesagt. »Sie sind viel zu empfindsam …«
Und das war der Moment, in dem sie gestammelt hatte: »Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen.«
Er hatte gelächelt.
»Luca, italienischer Abstammung, sechsunddreißig Jahre alt, gute Zähne, Bücherwurm. Ich bin ein Bibliotheksmönch.«
Sie hatte kläglich zurückgelächelt und gedacht, dass er ihr nicht alles erzählte. Außerdem war sechsunddreißig ein bisschen alt, um als Model zu arbeiten. Aber ich arbeite mit vierzig ja auch noch als Ghostwriter! Sie wagte nicht, ihn auf die Fotos anzusprechen. Sie wusste nicht, warum, aber irgendwie kam es ihr albern vor, dass er diesen Beruf ausüben sollte.
»Und was ist mit Ihrer Familie? Lebt sie in Frankreich oder in Italien?«, hatte sie tapfer weitergefragt.
Sie musste herausfinden, ob er verheiratet war.
»Ich habe keine Familie«, hatte er finster erwidert.
Sie hatte es dabei belassen.
Shirley war nicht da, also konnte sie ihr nicht davon erzählen. Sie hatte dreimal aus London angerufen. Sie würde am Montag zurückkommen. »Montag bin ich wieder da, versprochen, und dann gehen wir beide aus und feiern!«
»Was ich brauche, ist keine Feier, sondern eine Schlafkur! Ich bin müde, so furchtbar müde …«
Die Sendung hatte begonnen, Christine Barthillet steckte sich eine weitere Schaumerdbeere in den Mund und leckte sich die Finger ab. Man sah die Lichter von Schloss Windsor und Charles und Camilla, die oben auf der Freitreppe standen und Freunde und Verwandte begrüßten.
»Wie schön! Sind sie nicht ein süßes Paar? Ham Sie gesehen, wie das glitzert? Ham Sie die ganzen Blumen gesehen, die Musiker, die Dekoration? Ach, ist das schön, zwei Verliebte, die so lange aufeinander warten! Fünfunddreißig Jahre, Madame Joséphine, fünfunddreißig Jahre! Das können nich viele von sich behaupten.«
Sie ganz bestimmt nicht!, dachte Joséphine. Fünfunddreißig Sekunden im Internet, und Sie sind bereit, beim erstbesten Kerl einzuziehen!
»Wie heißt der Verheiratete mit den vier Kindern?«, flüsterte sie Christine Barthillet ins Ohr.
»Alberto … Er ist
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