Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Paris oder in London. Sie hatte sich informiert. Aber das konnte sie entscheiden, wenn es so weit war. Sie würde fleißig lernen, um Erfolg zu haben. Von niemandem abhängig sein. Männer bezirzen, damit sie ihr weiterhalfen. Reich sein. Das Leben war so einfach, wenn man die richtigen Grundsätze befolgte. Bekümmert sah sie zu, wie ihre Klassenkameradinnen ihre Zeit mit der Frage vergeudeten, ob dieser oder jener picklige Riese sie bemerkt habe. Sie selbst gab Vollgas. Chaval hatte sie die Zähne gezogen, und Mick Jagger war scharf auf sie. Ihre Mutter würde ein Vermögen verdienen … vorausgesetzt, sie kassierte auch die Tantiemen für das Buch. Sie würde darauf achten müssen, dass sie sich nicht übers Ohr hauen ließ! Aber wie soll ich das anstellen? Wen könnte ich um Rat bitten?
Ihr würde schon etwas einfallen.
Alles in allem war es gar nicht so schwer, sich einen Platz an der Sonne zu erkämpfen. Man musste es bloß richtig angehen. Durfte keine Zeit mit Gefühlen verschwenden. Sich nicht erweichen lassen. Musste Chaval den Laufpass geben, wenn er zu nichts mehr nütze war, und einem alten Rocker vorgaukeln, er sei ihr Märchenprinz. Männer sind ja so eitel! Ihre Augen verengten sich in der Dunkelheit zu
Schlitzen. Sie nahm ihre liebste Einschlafhaltung ein: die Arme an den Körper gelegt, den Kopf zur Seite gedreht, die Beine zu einem langen Meerjungfrauenschwanz geschlossen. Oder einem Krokodilschwanz. Sie hatte Krokodile schon immer gemocht. Sie hatten ihr nie Angst gemacht. Sie respektierte sie. Sie dachte an ihren Vater. Wie sehr sich ihr Leben verändert hatte, seit er fort war! Armer Papa, seufzte sie und schloss die Augen. Ach was, korrigierte sie sich sofort, ich brauche ihn nicht zu bemitleiden. Der kommt schon wieder auf die Beine!
Und ihre eigene Zukunft präsentierte sich ausgesprochen verheißungsvoll.
Philippe Dupin warf einen Blick in seinen Terminkalender und sah, dass Joséphine für fünfzehn Uhr dreißig eingetragen war. Er rief seine Sekretärin an und fragte sie, ob sie wisse, worum es ging.
»Sie hat angerufen und um einen offiziellen Termin gebeten … Sie hat darauf bestanden, ausreichend Zeit zu bekommen. Hätte ich ihr den Termin nicht geben sollen?«
»Doch, doch«, brummte er und legte gespannt auf.
Als Joséphine sein Büro betrat, traf ihn beinahe der Schlag. Sie war braun gebrannt, hatte sich Strähnchen machen lassen, hatte abgenommen und sah viel jünger aus als früher. Aber vor allem schien eine innere Last von ihr abgefallen zu sein. Sie richtete nicht mehr mit hängenden Schultern den Blick auf den Boden, als wollte sie sich ständig für ihre Existenz entschuldigen, sondern kam lächelnd herein, küsste ihn und setzte sich ihm gegenüber.
»Philippe, ich muss mit dir reden …«
Er sah sie an, um den Moment ein wenig in die Länge zu ziehen, dann fragte er: »Bist du verliebt, Joséphine?«
»Ja«, stotterte sie verwirrt, ihr Blick trübte sich, und sie fügte hinzu: »Sieht man mir das an?«
»Es steht dir ins Gesicht geschrieben, man erkennt es an deinem Gang, daran, wie du dich setzt … Kenne ich ihn?«
»Nein …«
Sie betrachteten einander eine Weile schweigend. In Joséphines Blick entdeckte Philippe eine Verunsicherung, die ihn überraschte und den Schmerz, den er verspürt hatte, ein wenig linderte.
»Das freut mich für dich …«
»Aber ich bin nicht gekommen, um dir das zu erzählen.«
»Ach so? Ich dachte, wir wären Freunde …«
»Eben. Und gerade weil wir Freunde sind, bin ich hier.«
Sie atmete tief ein. »Philippe …«, setzte sie an. »Was ich dir jetzt sagen werde, wird dir nicht gefallen, und ich möchte auf keinen Fall, dass du glaubst, ich wollte Iris dadurch schaden.«
Sie zögerte, und Philippe fragte sich, ob sie den Mut haben würde, ihm den Schwindel um das Buch einzugestehen.
»Ich werde dir helfen, Jo. Iris hat Die demütige Königin nicht geschrieben, das warst du …«
Jos Unterkiefer klappte herunter, und ihr Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen.
»Du hast es gewusst?«
»Ich habe es geahnt, und mein Verdacht wurde mit der Zeit immer stärker …«
»Mein Gott, und ich dachte …«
»Joséphine, lass mich dir erzählen, wie ich deine Schwester kennengelernt habe … Soll ich uns etwas zu trinken kommen lassen?«
Joséphine schluckte und antwortete, das sei eine gute Idee. Ihr Mund war trocken, und ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.
Philippe bat seine Sekretärin um
Weitere Kostenlose Bücher