Die Gelehrten der Scheibenwelt
funktioniert. Wenn wir behaupten, solch ein komplexes Gebilde habe sich entwickelt, müssen wir zugestehen, daß es sich allmählich entwickelt hat. Es kann nicht alles gleichzeitig entstanden sein. Doch wenn dem so ist, muß in jedem Stadium des Evolutionsablaufs das sich noch entwickelnde Proto-Auge seinem Besitzer einen Überlebensvorteil gewähren. Wie kann das geschehen? Die Frage wird oft in der Form »Wozu ist ein halbes Auge nütze?« gestellt, und die erwartete Antwort lautet »Zu nichts«, worauf sich der Antwortende geschwind zu der einen oder anderen Religion bekehren soll. »Zu nichts« ist eine vernünftige Antwort – aber auf die falsche Frage. Es gibt viele Wege, wie man allmählich zu einem Auge gelangt, ohne daß es Stück für Stück wie ein Puzzle zusammengesetzt werden müßte. Die Evolution baut Lebewesen nicht Stück für Stück zusammen wie der Gott der Evolution in Heiße Hüpfer . Darwin selbst hat darauf hingewiesen, daß man bei Lebewesen der Gegenwart alle Arten von lichtempfindlichen Organen findet – angefangen bei Hautpartien und dann, mit zunehmender Komplexität, Lichtsammelvermögen und Auflösungsschärfe bis zu derart sinnreichen Gebilden wie dem Menschenauge. Es gibt ein Kontinuum augenähnlicher Organe in der Welt des Lebens, und jedem Lebewesen bringt das ihm eigene lichtempfindliche Organ einen Vorteil gegenüber ähnlichen Wesen, die ein etwas weniger wirkungsvolles Organ ähnlicher Art haben.
1994 benutzten Daniel Nilsson und Susanne Pelger einen Computer, um zu sehen, was mit dem mathematischen Modell einer lichtempfindlichen Oberfläche geschähe, wenn ihr kleine, zufällige, biologisch mögliche Veränderungen erlaubt wären, wobei nur solche Veränderungen Bestand hätten, die die Lichtempfindlichkeit erhöhen würden. Sie stellten fest, daß innerhalb von 400 000 Generationen – für die Evolution ein Wimpernschlag – sich diese flache Oberfläche allmählich in ein erkennbares Auge mitsamt Linse verwandelte. Die Linse brach das Licht sogar an verschiedenen Stellen verschieden stark, wie es die Linse unseres Auges im Gegensatz zu normalen Brillengläsern tut. Bei jedem winzigen Schritt in dieser Abfolge wäre ein Lebewesen mit dem verbesserten ›Auge‹ gegenüber einem mit der alten Version im Vorteil gewesen.
In keinem Stadium hat es dabei jemals ›ein halbes Auge‹ gegeben. Es gab nur Dinge, die Licht wahrnahmen und dabei besser wurden.
Seit den fünfziger Jahren verfügen wir über ein neues und zentrales Stück im Evolutionspuzzle, ein Stück, für das Darwin seine rechte Hand hergegeben hätte. Es ist die physikalische – genauer gesagt, chemische – Natur dessen, was dafür sorgt, daß sich die Eigenschaften von Organismen verändern und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden können.
Sie kennen das Wort: Gen.
Sie kennen das Molekül: DNS.
Sie wissen sogar, wie es funktioniert: Die DNS trägt den genetischen Code, eine Art chemische ›Blaupause‹, eine Konstruktionszeichnung für einen Organismus.
Und wahrscheinlich sind viele der Dinge, die Sie wissen, Lügen-für-Kinder.
Wie das ›Überleben des Tüchtigsten‹ die Vorstellungen der Menschen im viktorianischen Zeitalter beherrschte, beherrscht ›die DNS‹ heute die Vorstellungen der Öffentlichkeit. Vorstellungen gedeihen aber am besten, wenn man ihnen freien Lauf läßt: In Gefangenschaft werden sie müde und schwächlich. Vorstellungen in Gefangenschaft vermehren sich ziemlich schnell, denn sie sind geschützt vor dem schrecklichen Raubtier namens Denken .
Die DNS hat zwei frappierende Eigenschaften, die in der komplexen Chemie des Lebens eine bedeutende Rolle spielen: Sie kann Information codieren, und diese Information kann kopiert werden. (Andere Moleküle verarbeiten die Informationen der DNS, zum Beispiel indem sie nach den in der DNS codierten Rezepten Proteine herstellen.) Aus dieser Sicht ist ein lebender Organismus eine Art molekularer Computer. Natürlich gehört noch viel mehr zum Leben, doch die DNS ist das Kernstück jeder Diskussion über das Leben auf der Erde. Die DNS ist für das Leben der wichtigste ›Weltraumlift‹ auf molekularer Ebene – eine Plattform, von der aus das Leben in höhere Bereiche starten kann.
Die Komplexität von Lebewesen rührt nicht daher, daß sie aus einer besonderen Art Materie bestünden – wie es die jetzt ad acta gelegte ›Vitalismus‹-Theorie besagte –, sondern weil ihre Materie auf außerordentlich kunstvolle
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