Die Gelehrten der Scheibenwelt
jetzt die vermutlich ›letzten‹ Bestandteile dieser vertrauten Teilchen gefunden oder vielleicht er funden (weitere exotische Dinge mit Namen wie Quarks, Gluonen … wenigstens die Namen klingen allmählich vertraut).
Als Heiliger Gral der Teilchenphysik gilt seit geraumer Zeit, das ›Higgs-Boson‹ zu finden, welches – falls es existiert – erklärt, warum die anderen Teilchen eine Masse besitzen. In den sechziger Jahren äußerte Peter Higgs die Vermutung, der Raum sei mit einer Art Quantensirup angefüllt, den er das Higgs-Feld nannte. Er nahm an, dieses Feld übe vermittels des Higgs-Bosons eine Kraft auf Teilchen aus, und diese Kraft werde als Masse beobachtet. Seit dreißig Jahren bauen Physiker immer größere und energiereichere Teilchenbeschleuniger wie den neuen Large Hadron Collider, der 2007 in Betrieb gehen soll, um dieses flüchtige Teilchen zu finden.
Ende 2001 haben Wissenschaftler nach einer Analyse von Daten aus dem vorangehenden Beschleuniger, dem Large Electron Positron Collider (LEP), mitgeteilt, daß das Higgs-Boson wahrscheinlich nicht existiert. Wenn doch, dann muß es sogar noch massereicher als allgemein angenommen sein, und die Wissenschaftler vom LEP sind skeptisch. Es gibt keinen brauchbaren Ersatz für Higgs’ Theorie, nicht einmal das modische Konzept einer ›Supersymmetrie‹, das jedem bekannten Teilchen einen massereicheren Partner zuordnet. Die Supersymmetrie sagt mehrere Higgs-Teilchen voraus, deren Massen durchaus in dem Bereich liegen, wo die Daten des LEP beweisen, daß es da nichts dergleichen gibt. Manche Physiker hoffen immer noch, daß sich das Higgs-Boson zeigen wird, wenn der neue Beschleuniger anläuft – andernfalls aber wird die Teilchenphysik sämtliche Grundlagen ihres Gegenstands neu überdenken müssen.
Was auch immer mit dem Higgs-Boson geschieht, die Physiker fragen sich allmählich, ob es noch tiefere Schichten der Wirklichkeit gibt, noch ›letztere‹ Teilchen.
Lauter Schildkröten, immer weiter abwärts?
Reicht die Physik immer weiter abwärts, oder hört sie irgendwo auf? Wenn sie aufhört, ist das dann das Letzte Geheimnis oder nur der Punkt, wo die Denkweise der Physiker versagt?
Das konzeptuelle Problem darin ist schwierig, weil das Universum ein Werden ist – ein Prozeß – und wir es uns als Ding vorstellen wollen. Wir finden es nicht nur verwirrend, daß das Weltall seinerzeit so anders war, daß sich die Teilchen anders verhielten, daß das Weltall von damals zum Weltall von heute wurde und daß es vielleicht einmal aufhören wird, sich auszudehnen, und in einem Großen Kollaps in einen Punkt zusammenstürzen wird. Wir sind es gewohnt, daß Babys zu Kindern und diese zu Erwachsenen werden, doch diese Prozesse überraschen uns immer wieder – wir möchten, daß die Dinge denselben Charakter behalten, daher fällt es unserem Denken schwer, mit dem ›Werden‹ umzugehen.
Es gibt einen anderen Bestandteil der ersten Akte unseres Weltalls, über den nachzudenken sogar noch schwieriger ist. Wo kommen die Gesetze? Warum gibt es Dinge wie Protonen und Elektronen, Quarks und Gluonen? Für gewöhnlich unterteilen wir Prozesse in zwei vom Konzept her unterschiedliche kausale Brocken: die Anfangsbedingungen und die Regeln, nach denen sie im Laufe der Zeit verändert werden. Für das Sonnensystem beispielsweise sind die Anfangsbedingungen die Orte und Geschwindigkeiten der Planeten zu einem festgelegten Zeitpunkt; die Regeln sind die Gravitations- und Bewegungsgesetze, die uns sagen, wie sich diese Orte und Geschwindigkeiten anschließend ändern. Doch für den Anfang des Universums scheinen überhaupt keine Anfangsbedingungen dazusein. Nicht einmal da ist da! Also scheint alles von den Regeln zu kommen. Woher kommen die Regeln? Mußten sie erfunden werden? Oder saßen sie einfach in einer unvorstellbaren zeitlosen Pseudo-Existenz und warteten darauf, aufgerufen zu werden? Oder entfalteten sie sich in den frühesten Augenblicken des Universums, als Etwas auftauchte – so daß das Universum zusammen mit Raum und Zeit auch seine eigenen Regeln erfand?
Zwei unlängst erschienene Bücher führender Wissenschaftler untersuchen, wie Regeln ›erfunden‹ werden könnten. Das jüngste ist Investigations (2000, ›Untersuchungen‹) von Stuart Kauffman. Es zielt größtenteils auf Biologie und Ökonomie, beginnt aber mit Regeln der Physik. Kauffman gibt eine neue Antwort auf die alte Frage ›Was ist Leben?‹, indem er eine Lebensform als
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