Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Zahno
Vom Netzwerk:
Stöbern in der Bibliothek des Seminars stieß ich nach ein paar Tagen jedoch auf einen vergessenen, verstaubten Ordner aus den fünfziger Jahren. Ich blätterte darin und entdeckte eine vergilbte Matrize, die identisch war mit unserem Prüfungsblatt. Schon vor über zwanzig Jahren hatte man den Erstsemestern dieses Blatt vorgelegt, um sie über die Grundlagen der englischen Sprachwissenschaft abzufragen. Ein Vierteljahrhundert war vergangen, ohne zu vergehen.
    Die Dozenten kamen mir vor wie Ciceroni, die ihre Sprache verloren hatten und in der Not nun Angelesenes wiederkäuten und als das Eigene ausgaben. Ihre uninspirierten Vorträge vermittelten den Eindruck, die Italianistik sei das langweiligste Fach der Welt – was mich unglaublich deprimierte. Aber vielleicht deprimierte mich im Grunde etwas anderes: dass die Italianistik tatsächlich das langweiligste Fach der Welt war.
    Diese Einsicht war für einen, den Pavese, Svevo und Morante faszinierten, umso qualvoller. Mehr noch irritierten mich aber die universitären Rituale der Herrschaft und der Heuchelei, die von den Studenten fraglos übernommen wurden. Für die meisten von ihnen war entscheidend, sich bei den Prüfungen schön anzuziehen und sich das Buch des Professore signieren zu lassen. Der blanke Opportunismus meiner Generation, die ich für kritisch gehalten hatte, bestürzte mich. Offenbar war sie genauso korrupt und korrumpierbar wie die unserer Vorfahren. Offenbar ging sie davon aus, dass Erkenntnis eine Ware war, die für immer feststand und die man erwerben konnte wie eine Monatskarte für die Vaporetti.
    Nach den ersten zwei Semestern war ich drauf und dran aufzuhören. Die meiste Zeit beanspruchte ohnehin mein Job in der Gelateria, so dass ich mich nur noch selten in Kursen blicken ließ. Ich begann zu begreifen, warum die meisten Venezianer ihr Studium nicht abschlossen – es war einfach zu weit weg von der Welt, ein antiquiertes System, dem die Wirklichkeit davongelaufen war.
    Zum Glück stieß ich im dritten Semester auf Professore Garbizza. Gegen ihn waren alle anderen Professoren wie tiefgekühlter Fisch. Nicht nur erwies er sich als herausragender Kenner der italienischen Literatur, er kannte auch sämtliche Bilder in sämtlichen Kirchen Venedigs, die Geschichten, die mit ihnen verbunden waren, die Viten der Maler und Architekten, er kannte die Ideen- und Kulturgeschichte wie kein Zweiter, wusste Bescheid in Physik und Logik, in Theologie und Medizin, sprach elf Sprachen und las die lateinischen und griechischen Quellen im Original. Kurz, er war eine Art Universalgelehrter, eher dem neunzehnten Jahrhundert zugehörig als dem zwanzigsten. Bei alldem war er menschlich geblieben, fing mit seiner Tochter Tintenfische oder sang seiner Enkelin alte venezianische Weisen.
    Mag sein, dass er etwas steif oder streng wirkte mit seiner quer über die Glatze gekämmten Haarsträhne und seinen riesigen Händen, mag sein, dass ihn seine schneeweißen Schienbeine unter den Hochwasserhosen etwas spröde erscheinen ließen, aber an der Ca’ Foscari war er der Einzige, der Intelligenz verströmte. Hätte er nicht seine Vorlesung über Gut und Böse in der italienischen Nachkriegsliteratur gehalten, hätte ich das Studium geschmissen.
    Als ich ihm einmal in einer Sprechstunde meine Vorbehalte schilderte, ermunterte er mich, das zu tun, was ich für richtig hielte. Er nahm nicht Partei für die Italianistik. Das gefiel mir. Von diesem Augenblick an wusste ich, dass ich mein Studium beenden würde.
    Nachdem dieser Knoten gelöst war, ging es auch in anderen Bereichen vorwärts. Im Sestriere Dorsoduro fand ich durch Pippos Bruder und dessen Beziehungen zum Bürgermeister beim Campo Sant’Agnese eine winzige Wohnung in der Nähe des Palazzo Trevisan degli Ulivi. Es war eher ein Kabäuschen, aber das war mir egal. Von »fora dal mondo«, von außerhalb der Welt, zog ich zum angenehm belebten Zattere-Quai. Zu Hause konnte ich nicht mehr länger bleiben – mein Vater hielt mich für einen Nichtsnutz, der sich bekochen und aushalten ließ, einen Parasiten, der um vier Uhr morgens nach Hause kam, während er sich für den Frühdienst rasierte.
    Die neue Umgebung mit dem Blick auf den Canale della
Giudecca verschaffte mir ein neues Lebensgefühl. Oft stand ich einfach am Fenster und schaute zu, wie das Licht die Wasseroberfläche kitzelte und zum Glitzern brachte. In der Nacht lag ich auf dem Bett, blickte an die Decke, lauschte dem steten Blubbern und Schlabbern

Weitere Kostenlose Bücher