Die Geliebte des Gelatiere
des Wassers und träumte von einem anderen Leben.
8
Am Giovedì Grasso schlenderte ich zur Piazza, um dem Karnevalstreiben beizuwohnen. Die Luft war erfüllt vom süßen Geruch der Fritelle, und aus vielen Palazzi drang barocke Musik. Aus den Gassen strömten fantastische Masken Richtung Prokuratien: Othello, der Mohr von Venedig, mit einem strassbesetzten Helm und gelben Wedeln, ein tropischer Schmetterling mit rosaroten Flügeln und hellblauen Fühlern, ein gefiederter Vogelmensch, dessen spitze rote Larve an die alten Pestmasken erinnerte, ein rotschwarzer Scaramuccia auf einer Gondel, Nonnen in züchtigem Schwarz und Damen in zartem blauen Tüll.
Ich war nicht kostümiert. Meine Eltern hatten nie mitgemacht beim Carnevale, meine Mutter hatte diese Tage immer mit Skepsis betrachtet, wenn nicht mit Verachtung, und so war ich nie richtig in dieses Verkleiden und Verbergen und Aufdenkopfstellen hineingewachsen. Aber wenn er dann begann, ging ich doch immer gerne hin, mit einem leisen Bedauern, ohne Maske und Kostüm durch die Calli zu flanieren.
Vor dem Caffè Florian hörte ich einem Dottore zu, der gespreizte Reden voller lateinischer Einsprengsel hielt, als ich einen Blick in meinem Nacken spürte. Ich drehte mich um. Eine junge Frau ohne Maske, stark geschminkt und in einem ausladenden Rokoko-Kostüm, blinzelte mir zu. Irgendwie kam sie mir bekannt vor und in dem Kostüm zugleich fremd. Ich konnte sie nicht einordnen, hatte keine Ahnung, wo wir uns schon begegnet waren. Aber sie schaute mich so unverwandt an, dass ich annehmen musste, dass sie mich kannte. Vielleicht hatte ich ihr in der Gelateria Eis serviert, oder wir hatten an der Ca’ Foscari im selben Kurs gesessen.
Sie sprach mich an, als kennten wir uns schon seit Jahren. Verkrampft spielte ich das Spiel mit und tat so, als ob wir bekannt miteinander wären. Es war mir peinlich. Verbissen dachte ich nach, bis mir schließlich der Groschen fiel: Es war das Mädchen aus dem Papierwarengeschäft, wo ich immer mein Papier und meine Schreibstifte kaufte. Seit Jahren ging ich dafür an denselben Ort, und seit Jahren wurde ich von diesem Mädchen bedient, oft mit einem schalkhaften Lachen, von dem ich nicht recht wusste, was es zu bedeuten hatte. Lachte sie mich aus, weil ich so viel Papier brauchte? Oder lachte sie mich an, weil sie neugierig war, was ich mit dem vielen Papier anstellte? Ihr Lachen hatte etwas Zweideutiges, und es war mir nie ganz klar, ob sie mich für einen Stubenhocker oder einen Frauenliebling hielt.
Jetzt aber strahlte sie mich an. Überhaupt war sie völlig aufgedreht. Sie schlug vor, etwas trinken zu gehen. Bei so viel Begeisterung konnte ich nicht nein sagen. Das Caffè Florian war allerdings überfüllt, und auch im Quadri und den anderen Cafés in der Nähe war es nicht besser. Danach suchten wir Platz in einem Weinlokal, doch vergebens. Schließlich meinte sie, wir sollten zu ihr, da könnten wir in Ruhe etwas trinken, sie wohne nicht weit. Ich war einverstanden. Ich hatte genug vom Trubel und war neugierig, wie das Mädchen aus dem Papierwarengeschäft wohnte.
Wie sich herausstellte, lebte sie an der stinkenden Schleife zwischen der Fondamenta del Remedio und dem Sottoportego de la Stua, hinter der Fondazione Querini Stampalia. Zusammen mit dem Rio delle Muneghete war dies der berüchtigste Kanal, was die Gerüche anbelangt, aber um einen Prosecco zu trinken, musste man das Fenster ja nicht öffnen. Sie hatte eine Mansarde mit Bad im Dachstock des Hauses ihrer Eltern, die wegen des Karnevals auf die Terraferma geflüchtet waren.
Das Mädchen führte mich die steinerne Treppe hoch und bot mir in der engen Mansarde einen Platz an einem wackligen Tischchen an. Elisa war nicht besonders groß, etwas mollig, das Gesicht unscheinbar, wirkte aber nett und herzlich. Wie Charlotte redete sie ziemlich viel.
Sie öffnete die Flasche, schenkte den Prosecco in die bereitgestellten Gläser, und wir stießen auf den Giovedì Grasso an. Danach verschwand sie im Bad, um sich abzuschminken. Ich schaute mich in der Mansarde um. Sie war lang und schmal, mit einem Fenster zum Kanal. Außer einem Eisenbett, einem Kleiderschrank und einem Bild, das Elisa als Kind mit einem Tintenfisch zeigte, war das Zimmer leer, kühl und karg. Aber meine Dachkammer hatte ich ja auch nicht nach »Abitare« eingerichtet.
Als sie aus dem Badezimmer kam, steckte sie noch immer in dem Rokoko-Kostüm, doch ihr Gesicht war nun wieder das Gesicht aus dem
Weitere Kostenlose Bücher