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Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Zahno
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mich nicht. Stattdessen wählte ich Fächer, die mir einen gewissen Freiraum ließen: Italienisch und Englisch.
    Schon die erste Vorlesung zeigte die Richtung an, in die mein Studium gehen sollte. Der Hörsaal füllte sich bis auf den letzten Platz. Aus meiner Klasse und von meinen Freunden studierte niemand Italienisch, und so kannte ich niemanden, während sich die meisten bereits zu kennen schienen.
    Als Professore Raise den Hörsaal betrat und die Anwesenden begrüßte, war der Raum voller Erwartung. Raises Stimme wirkte besänftigend, einlullend. Die Rosen blühen. Das war der Satz, über den er 45 Minuten lang sprach und den er nach der Art der verschiedenen Grammatiken auf immer neue Weisen zu analysieren trachtete.
    Nach einer Viertelstunde spürte ich ein nur schwer zu unterdrückendes Gähnen, das ich mit aller Kraft niederkämpfte. Ich legte den Schreibstift neben den Notizblock. Als ich mich ein wenig umsah, merkte ich, dass ich nicht der Einzige war. Manche kämpften gleich mir mit ihrer Müdigkeit, während von ferne eine Schiffssirene einen Dampfer in den Hörsaal hineinwachsen ließ. Nur ganz vorne in den ersten zwei Reihen saß eine Handvoll Streber, die eifrig jedes Wort mitschrieben, ohne vom Papier aufzusehen.
    Professore Raise nahm einen Schluck Wasser aus einem eigens mitgebrachten Zinnbecher. Der faulige Gestank des nahen Rio drang durchs Fenster und vermengte sich mit dem leichten Modergeruch des Hörsaals. Wellen klatschten gegen die Hauswand und überfluteten für einen Moment die kurze Stille.
    »Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Diesen Satz von Goethe, mit dem eine Scuola riservata warb, hätte ich Raise über die Bänke hinweg gerne zugeworfen. Aber mein Grad an Belebung war schon zu niedrig. Und es war nicht üblich, dass in einer Vorlesung die Studenten sprachen. Hier sprach der Professore.
    Die Rosen blühen. Ich gähnte. Mit aller Macht stieg es in mir auf, ein elementares, aus der Tiefe kommendes Gähnen, und obwohl ich mich nach Kräften dagegen wehrte, musste ich den Mund weit aufreißen. Es dauerte, bis ich ihn wieder schließen konnte. Ich senkte den Blick und errötete.
    Es war ein geringer Trost, dass nun auch mein Nachbar zum Gähnen ansetzte und sich mein Gähnen im Hörsaal fortzupflanzen schien und wie der Stab einer Staffel weitergereicht wurde. Ständig gähnte irgendwer, vorne, hinten, in der Mitte, die Hände wurden vor den Mund gehalten oder auch nicht, die Mäuler wurden aufgesperrt, wie Flusspferde es tun, wenn sie imponieren wollen. Aber Professore Raise schien das alles nicht zu beeindrucken.
    Ich wartete auf das Ende der Vorlesung, scharrte mit den Schuhen, spielte mit dem Kugelschreiber, kritzelte Zeichnungen auf den Notizblock. Endlich neigte sich die Stunde dem Ende zu. Raise kündigte an, dass er nächste Woche über den Satz Es schneit referieren werde, was mit einem Raunen quittiert wurde. Dann schellte die Glocke, und die blühenden Rosen waren Schnee von gestern. Raise packte seine Papiere in die Mappe. Als ich den Hörsaal verließ, schenkte er mir ein freundliches Lächeln, als wäre ich der aufmerksamste Zuhörer gewesen. Ich errötete erneut. War dieser Professore mit den melancholischen Augen unerhört nett und naiv, oder war er durchtrieben? Gequält lächelte ich zurück und versuchte, mir meine Qual nicht anmerken zu lassen.
    Langeweile plagte mich auch in der Einführung in die englische Sprachgeschichte. Die Stimme der Assistentin, die den Kurs leitete, war zwar nicht einschläfernd. Im Gegenteil: Sie hatte eine verrauchte Stimme, die in scharfem Kontrast zu ihrem ballerinenhaften Aussehen stand und sofort Aufmerksamkeit auf sich zog. Doch der Stoff von »Grimm’s Law« und der westsächsischen Vokale war zum Gähnen, und die Gesichter meiner Kommilitonen, die nur mit Mühe ihre Lippen zusammenpressen konnten, brachten mich weiter in Bedrängnis. Ich kämpfte wie ein Löwe, aber die Veränderungen, die der »Great Vowel Shift« bei vielen Lauten mit sich brachte, schoben auch meinen Mund immer wieder auseinander.
    Am Schluss des Kurses hatten wir ein Examen abzulegen, das verschiedene Aufgaben umfasste. Die erste war, die Herkunft des englischen Wortes »cock«, »Hahn«, zu erklären. Mit Hilfe der Notizen und Johnson’s Dictionary of the English Language war das kein Problem. Auch die anderen Aufgaben waren alle mehr oder minder leicht zu lösen. Beim

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