Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition)
mir tief in die Augen und sagte: „Du wirst sehen,
es ist hier viel schöner, als du es dir im Moment vielleicht vorstellen
kannst!“ Diese lieb gemeinte Aufmunterung führte allerdings nur dazu, dass mir
eine Träne über die Wange rollte.
„Du bist müde, nicht wahr?“, stellte Cheng-Si fest
und kürzte die Begrüßung ein wenig ab. „Sieh her“, sagte sie und wies auf die
anderen Frauen. „Das ist Zing-Sò, dort steht Chan-Ai.“
Die beiden Frauen verneigten sich.
„Dahinter siehst du Hua-Ju und daneben Lian-Hong.
Sie waren bis jetzt die Jüngsten.“ Cheng-Si wandte sich nun wieder mir zu.
„Jetzt bist du die Siebte im Bunde und unsere Jüngste. Es wird Shinlan gut tun,
wieder jemanden zum Bemuttern zu haben.“
Alle lachten, vor allem Shinlan.
„Hast du Hunger?“, fragte sie mich.
Doch ich schüttelte den Kopf. „Ich bin allem voran
müde. Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich mich gerne zurückziehen.“
„Du bist erschöpft“, nickte Cheng-Si. „Dann zeige
ich dir am besten deine Kammer.
Die Frauen, die mich eben so herzlich aufgenommen
hatten, lächelten und gaben mir jede einen Kuss auf die Stirn, bevor ich der
Hausmutter folgte.
Vor einer Schiebewand waren wir stehen geblieben.
Die ältere Frau hatte die Wand beiseite geschoben und ich war in meine
zukünftige Bleibe getreten.
„Ich wünsche dir eine gute Zeit, mein Kind!“,
sprach Cheng-Si und zog die Wand wieder zurück.
Das erste Mal seit Wochen war ich wieder alleine.
Neugierig sah ich mich in meiner neuen Welt um:
Das Zimmer war großzügig eingerichtet mit roten Tapeten an der Wand, auf die
goldene Vögel gezeichnet waren. Es gab ein großes Fenster mit dunkelgrünem
Rahmen und der Fußboden war aus glattem, feingeschliffenem Holz. Auf der
rechten Seite befand sich eine Schlafstätte mit kunstvollem Rahmen. Der Schlafplatz
war größer als der in meinem Elternhaus. Überhaupt war hier alles etwas größer,
als ich es gewohnt war. In der Nähe des Fensters lagen Kissen auf einer
Bastmatte und umrahmten einen schmalen, länglichen Tisch. Auf der linken Seite
befanden sich viele Truhen und als ich einen ersten schüchternen Blick hinein
warf, fand ich Gewänder, die wohl als Einstandsgeschenk zu betrachten waren.
Dass Vater eine Menge Geld dafür ausgegeben hatte, wusste ich nicht.
Die Reise war sehr anstrengend gewesen und die vergangenen
Stunden seit meiner Ankunft hatten mich ebenfalls sehr erschöpft. Ich bemerkte
eine zunehmende Müdigkeit und ließ mich auf meinen Decken nieder. Den Kopf
voller neuer Eindrücke, fiel ich in einen tiefen Schlaf.
3 Shinlan und Su-Ling
„Du fehlst mir“, sagte Mutter. „Du fehlst mir so
sehr, dass…“
Ein ohrenbetäubendes Geräusch setzte ein und übertönte
Mutters Stimme; ich konnte sie nicht mehr verstehen und war entsetzt, als sie
sich zu allem Überfluss auch noch wie ein Vogel erhob und davon flog.
Wieder das Geräusch. Es klang wie ein Gong und mir
wurde ganz schwindelig.
Als ich beim nächsten Gongschlag mühevoll die
Augen öffnete, wurde mir bewusst, dass ich geträumt hatte und soeben erwacht
war.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich begriff
wo ich mich befand. Denn ich lag nicht zu Hause, sondern in meinem neuen Raum
im Haus der Frauen.
„Min-Tao…?“, erklang es vom Flur.
„Ja?“, antwortete ich fragend.
Die Schiebetür öffnete sich und Cheng-Si trat
herein. „Ich wollte nur sicher gehen, dass du den Gong auch gehört hast.“
„Das habe ich. Aber was hat er zu bedeuten?“
„Das ist der Gong zum Frühstück“, erklärte sie
mir. „Wir erwarten dich.“
Flink erhob ich mich und erledigte rasch die
morgendliche Körperwäsche. Dann folgte ich dem Gelächter und den Stimmen der
Frauen und fand ohne Schwierigkeiten den Speiseraum. Er war durch eine Reihe
von Schiebetüren vom Gesellschaftsraum abgetrennt.
In der Mitte stand ein großer Tisch aus dunklem, poliertem
Holz, war länglich und schmal, und um ihn herum lagen viele Sitzkissen, so dass
neben den acht Frauen auch eventuelle Gäste Platz fanden.
Shinlan klopfte an die freie Stelle zu ihrer
linken und ich setzte mich.
Das Frühstück begann.
Wir aßen von feinstem Porzellangeschirr, wie ich
es nicht aus meinem Elternhaus gekannt hatte. Die weißen Teller waren bemalt
mit dunkelblauen Vögeln, die auf Ästen oder zwischen Gräsern saßen.
Es gab alles, was man sich nur vorstellen konnte:
süße Mehlspeisen, herzhaftes Gebäck, Fisch, gebratenes Fleisch, Soja in jeder
Form,
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