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Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition)

Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition)

Titel: Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Pilastro
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würde? Mutter hatte mich beruhigen wollen, aber wusste sie es wirklich?
    Dieser Gedanke stand offenbar leicht in meinem Gesicht
zu lesen, denn Shinlan fasste mir an die Schulter.
    „Du bist zu alt, Min-Tao“, beruhigte sie mich.
„Deine Füße sind ausgewachsen.“ Sie streichelte mir über die Wange. „Hab keine
Angst.“
    Erleichtert starrte ich auf meine Füße.
    Nach einer Weile des Schweigens brannte mir allerdings
eine weitere Frage auf der Zunge. „Wie wird es gemacht?“, wollte ich wissen.
     
    „Warum willst du das wissen?“, fragte Shinlan. „Es
wird dir nicht besser gehen, wenn du es weißt.“
    „Es interessiert mich aber. Ich möchte wissen, was
eine Frau hier durchmachen muss. Vielleicht bin ich dann nicht so ausgegrenzt,
wenn ich es zumindest weiß.“
    Es war kein Geheimnis, dass jeder über meine Füße
Bescheid wusste. Ich hatte sogar schon Geflüster gehört, Shenzong hole mich
deshalb nicht zu sich, weil ich riesige Füße hätte. Ob man dem Gerede Glauben
schenken konnte? Fakt war allerdings, dass der Kaiser mich tatsächlich noch
nicht zu sich gerufen hatte, wobei ich insgeheim jedoch sehr froh darüber war.
    „Du möchtest es also wirklich wissen?“,
vergewisserte sich Shinlan und als ich nickte, berichtete sie – fast nüchtern –
von der Prozedur des Füße-Abbindens: „Wenn die Mädchen etwa drei Jahre alt sind
und eine gewisse Grundgröße erreicht haben, werden die Füße massiert, um dann
den Fußknochen mit einem Stein zu brechen. Danach werden die Füße eng mit
Bandagen umschlungen, damit das Wachstum gehemmt wird. Alle Zehen, mit Ausnahme
der großen Zehe, werden unter die Fußsohle gebunden. So entsteht mit der Zeit
eine neue, spitze Form des Fußes.“
    „Aber wie will man denn dann laufen?“, fragte ich
mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen.
    „Laufen?“, fragte Shinlan verwundert. „Wozu? Du
kannst doch überall hin getragen werden?“
    „Aber hast du denn nicht den Wunsch, selbst zu gehen?“
Shinlan begriff offenbar nicht, worum es mir ging. Im Gegenteil: Die Ältere
schien dennoch glücklich mit ihrem Leben zu sein. Also wechselte ich das Thema:
„Seit wann bist du eigentlich hier?“
    „Du hast heute viele Fragen, meine Kleine!“
Shinlan lachte. „Aber ich will es dir gerne erzählen! Meine Mutter ist die
Nichte von Shenzongs Großmutter gewesen. Ich habe schon immer am Palast gelebt.
Weil ich den Umgang mit Kindern so sehr liebte, durfte ich mich stets um den
Nachwuchs in der kaiserlichen Familie kümmern. Shenzong war mein Spielgefährte,
als ich ein Kind war. So verbrachten wir viel Zeit miteinander. Später hieß es,
neues Blut müsse in die Familie gebracht werden und so nahm sich Shenzong eine
Frau.“
    War das ein Schatten auf Shinlans Augen, den ich
zu sehen glaubte? Nein, wahrscheinlich hatte ich es mir eingebildet…
    „Die ehrwürdige Erstfrau lebt an seiner Seite und
ich wurde Zweitfrau.“ Shinlan sah nachdenklich in den Garten. Dann grinste sie
breit. „Aber weißt du was?“, fragte sie mich. „Bis heute bin ich diejenige, die ihm Kinder schenkt.“ Die Schadenfreude in Shinlans Stimme war
nicht zu überhören. „Komm, Min-Tao“, wechselte sie schließlich das Thema, „mach
einen Spaziergang! Ich merke doch, dass dir danach ist. Es macht mir nichts
aus, hier zu sitzen. Ich kenne es nicht anders, also mach dir keine Sorgen.“
Sie gab mir einen kleinen Stups und lenkte dann ihre Aufmerksamkeit wieder auf
ihre Handarbeit.
     
    Wie froh war ich, endlich ein bisschen Bewegung zu
finden. Die vielen Erzählungen über Füße hatten in mir eine Übelkeit aufsteigen
lassen, die ich nur mit großer Mühe unterdrücken konnte. Ich atmete die frische
Luft tief ein und wurde mit jedem Schritt, den ich tat, ruhiger. Bewusster als
sonst setzte ich einen Fuß vor den anderen. Was für ein Glück ich doch gehabt
hatte! Ich war meinen Eltern unglaublich dankbar und ein klein wenig begann
ich, Vater zu verstehen, wenn er sich Sorgen gemacht hatte, mich rechtschaffen
zu versorgen. Anscheinend gab es heutzutage nur noch wenige Männer der
gehobenen Schicht, die eine Frau mit großen Füßen haben wollten.
     
    Der Garten war sehr groß, wie ich nun feststellte.
Es gab so viel zu sehen, dass ich bei meinem ersten Spaziergang nur einen
kleinen Bruchteil des ganzen Gartens erkunden konnte. Nahe dem Haus der
Frauen gab es einen Teich. An der südlichen Uferseite befand sich ein
kleiner Holzpavillon, der offenbar als Ruheplatz für die Frauen

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