Die Geliebte des Koenigs
plötzlich allein waren, atmete sie tief durch.
Allein mit Sharif. Nach all den Jahren.
„Nimm doch bitte Platz“, bat er und deutete auf den Stuhl am Lehrerpult. „Du brauchst in meiner Anwesenheit nicht zu stehen.“
Jesslyn schaute zu dem Stuhl hinüber, bezweifelte aber, dass ihre zitternden Beine sie bis dorthin tragen würden – zumindest nicht in diesem Moment. „Möchtest du dich nicht setzen?“
„Ich stehe lieber.“
„Dann bleibe ich auch stehen.“
„Es ist wesentlich bequemer für dich, wenn du sitzt“, beharrte er, ohne die Miene zu verziehen. „Bitte.“
Es war keine Bitte, sondern ein Befehl. Daran ließ sein Tonfall keinen Zweifel. Jesslyn warf Sharif einen neugierigen und überraschten Blick zu. So einen autoritären Ton war sie von ihm aus der Vergangenheit nicht gewohnt. Niemals hatte er seine Stimme erhoben oder ihr gar einen Befehl erteilt. Er war immer charmant, ja unwiderstehlich gewesen, locker und selbstbewusst. Ihr gegenüber hatte er sich nie gebieterisch verhalten, formell oder unpersönlich. Doch momentan wirkte er genau so auf sie.
Jetzt, da sie ihn näher betrachtete, fiel ihr auf, dass sich sein Gesicht doch sehr verändert hatte. In den vergangenen Jahren waren seine Züge markanter geworden, wirkten schärfer konturiert. Der gut aussehende Junge von damals war zu einem ausgesprochen attraktiven Mann gereift.
Und nicht zu irgendeinem Mann, sondern zu einem der einflussreichsten Machthaber im Mittleren Osten.
„Okay“, gab Jesslyn nach und räusperte sich, weil ihre Stimme plötzlich seltsam heiser klang. „Lass mich eben zu Ende aufräumen. Dann werde ich mich gern zu dir setzen.“
Damit wandte sie sich wieder dem Spülbecken zu, verstaute Eimer und Schwamm rasch im Unterschrank und wischte das nasse Becken mit einem Papiertuch trocken, das sie danach in den Mülleimer warf.
„Du musst selbst die Tafeln wischen?“, fragte Sharif erstaunt. Auf dem Weg zum Pult ging Jesslyn vorsichtig an einer Kiste mit Sportsachen und einem Stapel Bücher vorbei, die noch im Schrank verstaut werden mussten.
„Jeder ist für sein eigenes Klassenzimmer verantwortlich.“
„Ich dachte immer, so etwas sei Sache des Hausmeisters.“
„Wir versuchen, so viel wie möglich zu sparen.“
Sie ging in die Knie und nahm ein Taschenbuch vom Bücherstapel, das dort nicht hingehörte.
Inzwischen arbeitete sie seit vier Jahren in der kleinen Privatschule in Schardscha. In ihrem Klassenraum war es immer sehr warm, doch in den Monaten Mai, Juni und September konnte es geradezu unerträglich heiß werden.
„Ist es deshalb auch so furchtbar stickig hier drinnen?“, wollte er unvermittelt wissen.
Jesslyn schnitt eine Grimasse und nickte. Es war ihm also aufgefallen. „Die Klimaanlage läuft. Unglücklicherweise scheint sie nicht besonders effektiv zu sein.“ Sie nahm hinter dem Pult Platz und legte das Buch zur Seite. „Bist du etwa deshalb hierhergekommen? Um zu schauen, was diese Schule gebrauchen könnte, und dann zu spenden?“
„Wenn du bereit bist, mir zu helfen, werde ich gern spenden.“
Endlich war es heraus! Er wollte also ihre Hilfe … aber wobei? Was erwartete Sharif von ihr?
Jesslyn hatte das Gefühl, eine Zentnerlast würde sich auf ihre Brust legen und ihr den Atem rauben. Sie musste sich zwingen, ruhig ein- und auszuatmen.
Bloß nicht in Panik geraten! Ich schulde ihm nichts. Un sere Beziehung ist seit fast zehn Jahren beendet.
Doch als sie Sharifs veränderten Gesichtsausdruck bemerkte, war es mit ihrer erzwungenen Ruhe vorbei. Eindringlich musterte er sie von Kopf bis Fuß.
Errötend sortierte Jesslyn einige Papiere auf ihrem Schreibtisch. „Und wobei brauchst du Hilfe?“
„Bei dem, was du am besten kannst.“ Langsam kam er auf sie zu.
Verzweifelt versuchte sie, sich auf Sharifs Worte zu konzentrieren und nicht auf seine verstörende Nähe. Doch Schritt für Schritt kam er ihr näher und brachte sie damit vollkommen aus der Fassung. „Wie du weißt, bin ich Lehrerin, Sharif“, sagte sie.
„Genau.“ Jetzt stand er direkt vor ihr – groß, beeindruckend.
War er damals eigentlich auch schon so groß gewesen? „Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben“, murmelte sie rau.
„Exakt neun Jahre.“
„Neun …“, wiederholte sie wie betäubt und versuchte, ihren Blick von seinem schönen Gesicht loszureißen. Aus dem charmanten Prinzen von damals war ein Mann geworden. Und er war kein Prinz mehr. Er war Sadads
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