Die Geliebte des Normannen
ist.«
Die Kunde von Marys Entführung hatte Stephen vor fünf oder sechs Stunden in Edinburgh erreicht, wo Duncan jetzt Hof hielt. Um Mitternacht war er vom Boten seiner Mutter wachgerüttelt worden. Er war sofort nach Alnwick aufgebrochen und hatte nur eine Pause eingelegt, um seinen Vater über den Vorfall zu informieren. Rolfe hatte sofort beschlossen, ihn zu begleiten. Der neue König von Schottland, dem die Nachricht ebenfalls umgehend überbracht wurde, hatte ihnen alles Gute gewünscht.
Nun brach der Tag an. Stephen hatte sein Pferd praktisch zu Tode geritten, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen; er war erst vor einigen Augenblicken eingetroffen. Mary war am Nachmittag des vorherigen Tages entführt worden. Zwei Reiter hatten sie im wahrsten Sinne des Wortes aus der Mitte ihrer beiden Wachen geraubt. Seine Männer verfolgten die beiden bis in den Wald, verloren dort aber ihre Spur.
»Mylord, sie waren angezogen wie gewöhnliche Freie, aber sie sind geritten wie erfahrene Ritter«, erklärte Will. »Es steht außer Frage, dass die ganze Sache nicht erst gestern geplant wurde. Ich denke, die Männer haben nur auf eine Gelegenheit gelauert, bei der sie Ihre Ladyschaft ergreifen konnten.«
Stephen wusste bereits, dass es keine gewöhnliche Entführung war. Kein gewöhnlicher Rüpel würde es wagen, seine Gemahlin zu entführen, oder war überhaupt fähig, so eine Tat unter den Augen seiner Vasallen zu vollbringen. Tatsache war, dass einer seiner Feinde Mary entführt hatte – und Stephen konnte sich nichts anderes vorstellen, als dass dies ein Akt der Rache war. Wieder fühlte er sich elend vor Furcht.
Jegliches Leugnen oder Beteuern war zwecklos. Er liebte seine Frau bis zur Grenze des Wahnsinns und würde alles tun, um sie zurückzubekommen. Und wenn er sie wiederhatte, würde er ihr alle Wünsche erfüllen – er würde ihr nichts abschlagen.
Aber im Augenblick konnte er kaum etwas anderes tun als auf der Suche nach ihr eine blutige Spur quer durch das Land zu ziehen. Sobald er herausbekam, welcher Verrückte für die Entführung seiner Gemahlin verantwortlich war, würden alle, die im Gebiet dieses Lords lebten, leiden wie nie zuvor. Er würde keine Gnade walten lassen. Im Geiste ging Stephen jene durch, die ihn genug hassten, um ein solches Wagnis auf sich zu nehmen. Er hatte ein halbes Dutzend Todfeinde, aber keiner von ihnen, so dachte er, war dumm genug, eine solch unglaubliche Tat zu begehen.
»Wir reiten zum Wald zurück, dahin, wo sie zum letzten Mal gesehen wurden. Will, Ranulph, ihr führt uns«, befahl Stephen knapp.
Zusammen mit zwei Dutzend Bewaffneten ritt er gleich nach Sonnenaufgang los. Doch am Ende des Tages hatten sie noch immer nichts erreicht. Die Spur verlor sich an einem Bach, in den die Entführer hineingeritten waren. Von dieser Stelle an konnten Stephen und seine Männer kein einziges Zeichen mehr von ihnen entdecken. Mary war spurlos verschwunden.
Mary wusste, dass sie nach Norden unterwegs waren, Richtung Schottland. Trotz ihres Entsetzens brachte sie es fertig, folgerichtig zu denken. Ihr Verstand war alles, was ihr blieb, und sie wusste, dass sie versuchen musste, diesen nicht auch noch zu verlieren.
Die Schotten waren ihr Volk. Wer von ihnen würde so etwas tun und sie entführen? Oder war das Ganze eine List? War ihr Ziel nur deshalb Schottland, weil Stephen nie darauf kommen würde, dort nach ihr zu suchen?
Stephen.
Ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen bei dem Gedanken daran, was er durchmachen musste – und bei dem Gedanken, dass sie ihn womöglich nie mehr wiedersehen würde. »Stephen«, flüsterte sie, ohne zu merken, dass jeder es hören konnte, »ich brauche dich, ich brauche dich so sehr, bitte hilf mir jetzt!«
Sie benutzten nicht die alte Römerstraße, sondern folgten einem Wildwechsel nach dem anderen durch die Berge, durch Gelände, mit dem niemand anderer als ein Schotte vertraut sein konnte. Die Reiter hielten zweimal an; einmal, um ihre Tiere zu tränken und Mary von dem einen auf das andere umzusetzen, und einmal an einer kleinen, offenbar verlassenen Hütte, wo sie die Pferde gegen zwei frische austauschten, die dort bereitstanden. Sobald Mary wieder etwas Mut gefasst hatte, fragte sie die beiden Männer, wer sie beauftragt hatte und wohin sie sie brachten, doch sie weigerten sich, mit ihr zu sprechen.
Sie ritten bis in die Nacht hinein. Mary verfiel in einen unruhigen Schlaf, in dem sie von Stephen träumte und ihn bat, zu kommen
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