Die Geliebte des Normannen
sterben.
Schmerzen begannen ihn zu quälen, drohten, ihn zu überwältigen. Stephen zwang seinen Kopf zu funktionieren – er durfte sein Ziel nicht aus den Augen verlieren, er musste Mary finden! Er schlug kreisförmig um sich, zwang seinen Körper, noch tiefer zu tauchen; Lichter begannen, in seinem Kopf zu explodieren. Panik befiel ihn, eine vernunftlose Angst. Sein Überlebensinstinkt, der Drang, diesen Wahnsinn zu beenden und auf der Stelle zur Oberfläche zu schwimmen, kämpfte gegen die Entschlossenheit an, sie zu finden. Denn er musste sie finden.
Er konnte nicht ohne sie leben. Wie sehr er sie brauchte – es schien plötzlich alles so klar.
Ihm ging die Luft aus.
Würde er heute, jetzt, mit ihr sterben?
Ein helles, weißes Licht verzehrte sein Gehirn und mit ihm den Schmerz. Seine Finger berührten Stoff.
Stephen begann zu würgen. Aber er hatte bereits eine Handvoll Seidenstoff in der Faust. Einen Augenblick später hielt er Mary im Arm. Mit wilden Tritten und unter Zuhilfenahme des freien Arms ruderte er nach oben, weiter und weiter durch die dunkle, schwere, mörderische Flut. Er schwor sich, dass sie es schaffen würden.
Sein Kopf stieß durch die Wasseroberfläche. Stephen japste nach Luft und sah wie durch einen Schleier, dass vom Kai aus Männer riefen, zu undeutlich, um sie zu erkennen. Mary trieb leblos in seinen Armen. Sein Sehvermögen wurde besser, doch gleichzeitig packte ihn nacktes Entsetzen: Ihr Gesicht war blau und eingefallen, leblos.
»Stephen!«, rief eine Stimme. Brand. Im nächsten Augenblick war sein Bruder neben ihm im Wasser, übernahm Mary und schwamm mit ihr ans Ufer. Stephen folgte. Zahlreiche Arme griffen nach ihm und zogen ihn auf das hölzerne Dock.
Er schüttelte die Männer ab und kroch zu Mary. Sie lag auf dem Rücken und atmete nicht.
»Stephen«, keuchte Brand und ergriff seinen Arm. Mitleid lag in seinem Ton.
Gewaltsam schüttelte Stephen ihn ab. Er drehte Mary auf den Bauch, klopfte ihr auf den Rücken. Wasser kam aus ihrem Mund. Er klopfte weiter auf sie ein, und immer mehr Wasser quoll aus ihr heraus.
Er drehte sie wieder auf den Rücken.
»Atme!«, schrie er, »atme, Mary, bitte!«
Sie war reglos, eine Tote.
Brand ergriff ihn erneut von hinten.
»Stephen ... sie ist tot.«
»Nein!«, brüllte er.
In diesem Augenblick wusste er nichts, außer, dass niemand, nicht einmal Gott, ihn um seine Frau bringen würde. Sie brauchte Luft. Also würde er ihr die seine geben.
Er beugte sich über sie, legte seine Lippen über ihren Mund und öffnete ihn. Wieder und wieder presste er seinen Atem in sie hinein. Er meinte zu bemerken, dass ihr Körper etwas bebte, und eine ungezähmte Hoffnung durchflutete ihn.
»Stephen, hör auf!«, rief Brand schließlich gequält über ihm.
Stephen hörte ihn nicht. Er legte die Hände auf Marys Brustkorb und drückte, während er gleichzeitig weiter seinen Atem in ihre Lunge presste. Er fand einen Rhythmus, der in etwa seiner natürlichen Atmung entsprach.
Mary schien unter seiner Wange warm zu werden.
Er hielt inne, nahm ihr Gesicht in die Hände und blickte sie flehentlich an. Sie schien nicht mehr so blau zu sein, sie schien sich zu bewegen ... Lieber Gott, sie atmete!
Mit einem Schrei, der wie ein Schluchzen klang, brach Stephen neben ihr zusammen.
»Sie atmet!«, rief jemand. »De Warenne hat sie ins Leben zurückgeholt!«
Stephen legte die Arme über die Augen, damit niemand sein Weinen sah. Er konnte die Flut der Tränen nicht aufhalten. Siebzehn Jahre lang hatte er nicht mehr geweint. Es war erstaunlich, denn er hatte gedacht, er hätte das Weinen verlernt.
»Holt einen Doktor und Felle«, ordnete Brand an.
Kurz darauf merkte Stephen, dass sein Bruder eine Tunika um seinen fast nackten Körper wickelte. Er war bis auf die Hose entkleidet und zitterte. Doch er ignorierte Brands Protest, warf die Tunika ab und setzte sich auf. Auch Mary war zugedeckt worden. Er zog sie in seine Arme und stand mit Hilfe seines Bruders auf. Mary lebte zwar, aber sie atmete kaum und war bleich wie ein Gespenst.
»Bring mir ein Pferd«, sagte er zu Brand. »Und dann schickst du den Doktor nach Graystone.«
Stephen legte Mary auf sein Bett, zog ihr rasch und geschickt die durchnässten Kleider aus, wickelte sie in mehrere Wolldecken und breitete einen schweren Fuchspelz über sie. Sie war kreidebleich, und von Zeit zu Zeit lief ein Schauder durch ihren Körper. Noch immer war sie ohne Bewusstsein.
Ohne zu zögern zog er seine
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