Die Geliebte des Normannen
hatte beobachtet, wie er immer schläfriger wurde. Als sie ihn an der Tür ihres Gemachs zurückließ, hatte er sie aus trüben Augen angeblinzelt. Sie hegte keinerlei Zweifel daran, dass er im Augenblick und noch mehrere Stunden lang tief schlief.
Adele stieß Mary in die Seite. Mary konnte sich nicht länger aufhalten. Draußen vor dem schmalen Fenster mit dem teuren Glas war die Nacht bereits dem ersten Grau des Morgens gewichen. Sie schlüpfte rasch in ihre Kleider. Adele kroch wieder in ihr Bett, beobachtete sie jedoch genau. Die anderen Frauen im Raum schliefen fest; es war so still, dass Mary ihren schnellen Atem hörte. Rasch zog sie ihre Schuhe an und stahl schlechten Gewissens einen Umhang von einer der Frauen.
Adele winkte ihr wütend zu, endlich zu gehen.
Das erste Tageslicht drang in den Raum, als Mary die Tür hinter sich schloss. Den Wachen sagte sie, sie müsse die Toilette aufsuchen, und zitterte dabei, als würde sie frieren, um den Umhang zu erklären. Ihr Blick fiel auf Stephen. In der Ecke, in der er sein Lager zurechtgemacht hatte, war es sehr dunkel, sodass sie ihn nicht richtig sehen konnte, doch er schnarchte nicht einmal. Wenigstens seinetwegen brauchte sie sich keine Gedanken zu machen; er stand unter dem Einfluss des Schlafmittels. Mit flatternden Nerven folgte sie einer der Wachen den dunklen, leeren Flur entlang.
Sie schlüpfte in die Toilette, den Gestank ignorierend, und wartete. Da kam ihr der Gedanke, dass sie Stephen nie mehr wiedersehen würde – es sei denn, Malcolm schickte sie zurück.
Was tat sie!
Ein dumpfes Geräusch ließ sie aufschrecken. Sie stahl sich hinaus. Der Wachmann lag wie tot auf dem Boden, ein Maskierter stand über ihn gebeugt. Der Mann gestikulierte ungeduldig und eilte dann ihr voraus die Hintertreppe hinunter.
Mary betete, der Wachmann möge nicht ihretwegen zu Tode gekommen sein, und folgte dem von Adele angeheuerten Maskierten die Treppe hinunter.
Durch die Küche gelangte sie ins Freie. Um ihr Gesicht einigermaßen zu verbergen, zog sie die Kapuze des Umhangs über den Kopf; dann begann sie zu rennen.
Falls jemand sie auf ihrem Weg über den Burghof zu dem ihr angewiesenen Stall sah, beachtete man sie nicht weiter. Mit dem Umhang und der Kapuze konnte sie eine beliebige Frau sein. Die Wachen hatten zweifelsohne schon viele Frauen gesehen, die um diese Zeit heimlich zu oder von verbotenen Treffen geeilt waren.
Mary lief um den Stall herum und schlüpfte durch eine Tür in der dicken Burgmauer, eilte eine steile Steintreppe hinunter, über einen schmalen Korridor, trat durch eine weitere Tür und stand außerhalb der Mauern auf einem Kai. Sie hatte es geschafft.
Warum verspürte sie kein Triumphgefühl?
Es wurde langsam hell. Die aufgehende Sonne erschien als ein unscharfer, aprikosenfarbener Ball am Horizont. Es war bitterkalt, und als Mary nach dem Ruderer Ausschau hielt und ihn nicht vorfand, fühlte sie für einen Augenblick etwas wie Freude in sich hochsteigen. Dann sah sie ein kleines Boot auf den Anlegeplatz zuhalten, und ihr Herz begann wild zu hämmern. Das war es. Wenn sie fliehen wollte, dann musste sie es jetzt tun.
Sie blieb am Rand des Kais stehen, zitternd wegen der bedeutsamen Entscheidung, die sie treffen musste – eine Entscheidung, die sie längst getroffen zu haben glaubte. Doch dem war nicht so, das merkte sie in diesem Augenblick. Zaudern und Widerwillen erfüllten sie. Sie trat näher an den Rand des Kais, die Fäuste geballt, und betete um Rat und Hilfe. Stephens Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Plötzlich wollte sie nicht mehr weg von ihm. Innerhalb von zwei Wochen war er zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden.
Das Ruderboot kam langsam näher. Mary begann zu weinen. Zuerst merkte sie es gar nicht, doch dann spürte sie die nassen Tränen auf ihren Wangen. War er wirklich schuld an allem, was passiert war?
Sie presste eine Faust auf den Mund, um nicht mit einem schluchzenden Laut die Wachen auf der Burgmauer auf sich aufmerksam zu machen. Sie war es gewesen, die wider besseres Wissen Liddel verkleidet verlassen hatte, um sich heimlich mit Doug zu treffen. Sie war es gewesen, die Stephen ihre Identität nicht hatte preisgeben wollen und stattdessen ihre Tugend geopfert hatte. Und lieber, guter Gott, es war Malcolm gewesen, der sie Stephen übergeben hatte, ohne ihr auch nur ein Wort des Trostes zu spenden und ohne abzuwarten, ob sie wirklich schwanger war oder nicht.
Stephen verdiente also kaum den Tadel, mit
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