Die Geliebte des Normannen
dem sie ihn überhäuft hatte. Es war einfach nur leichter gewesen, ihm die Schuld zu geben als sich selbst oder Malcolm.
Mary bedeckte das Gesicht mit den Händen. Auf einmal quälte ihr Gewissen sie entsetzlich. Sie war nichts weiter als ein politisches Opfer. Mit erschreckender Klarheit erkannte sie nun, dass sie zwar fliehen, aber nicht nach Hause zurückkehren konnte. Sie würde nie wieder nach Hause zurück können. Sie hatte kein Zuhause mehr. Von Kummer verzehrt, hörte sie den Mann nicht, der sich ihr von hinten näherte. Gerade als sich die Sonne leuchtendgelb über den nebligen Horizont erhob, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
Im ersten Moment dachte sie, es sei Stephen, der ihr trotz der Betäubung durch den Mohnextrakt gefolgt sei und nun ihre Flucht vereitle. Sie drehte sich um, nicht um ihre Unschuld zu beteuern, sondern mit offenen Armen, voller Erleichterung.
Ein maskierter Mann schob sie gewaltsam rückwärts.
Mary schrie, als sie fiel; sie hatte das Gefühl, die Zeit stünde still. In diesem endlosen Moment erkannte sie mit Entsetzen, dass sie in die Themse gestoßen worden war und wahrscheinlich ertrinken würde.
Dann spritzte das Wasser auf, und sie ging unter. Zuerst konnte sie sich vor Verblüffung nicht bewegen. Es war eisig kalt. Ein heftiges Verlangen zu überleben riss sie aus ihrer Starre, aber der Umhang und ihre Gewänder hatten sich um ihre Gliedmaßen gewickelt. Panik überfiel sie, denn nun merkte sie plötzlich, dass ihr die Luft ausging. Sie versuchte, um sich zu schlagen, doch dadurch wickelte sich ihre Kleidung nur noch fester um sie, und sie sank noch rascher in die Tiefe.
Lieber Gott, sie war im Begriff zu sterben. Sie war im Begriff zu sterben, ohne die, die sie liebte, noch einmal wiederzusehen, ohne sich verabschieden zu können. Vertraute Gesichter tauchten vor ihrem inneren Auge auf: ihre Mutter, ihre Brüder, ihre kleine Schwester Maude. Malcolm. Trauer erfüllte ihr Herz. Und Stephen, der Gedanke an Stephen, den sie so schmerzlich verraten hatte.
Mary wollte nicht sterben. Sie war zu jung, um zu sterben. Sie hatte noch nicht genug gelebt. Sie erkannte, dass sie an der Schwelle zu einem völlig neuen Leben gestanden hatte, als Stephens Gemahlin. Plötzlich wusste sie mit glühender Leidenschaft, dass sie leben musste, um dieses Leben auszukosten.
Aber sie sank tiefer und tiefer. Sie begann zu husten. Wasser drang in ihre Lunge; sie würgte. Ihr Körper pochte schmerzhaft unter dem Druck, den der Fluss auf ihn ausübte, ihr Brustkorb fühlte sich an, als würde er explodieren.
Scherben aus Licht splitterten in ihrem Hirn, und kurz bevor Schwärze sie umfing, wusste Mary, dass es zu spät war.
14
Stephen sah den maskierten Mann, der Mary in die Themse stieß.
Er hatte nicht von dem Wein mit dem Mohnextrakt getrunken. Da er dem, was seine Braut mit Adele im Sinn hatte, von Anfang misstraute, hatte er sie genau beobachtet und mitbekommen, wie sie den Wein versetzt hatte. Also hatte er lediglich vorgegeben, einige Becher zu trinken. Seine Wut wurde zumindest etwas gedämpft, als er am Geruch erkannte, dass sie nicht vorhatte, ihn zu vergiften, sondern »nur« zu betäuben.
Er hatte simuliert, die Wirkung des Schlafmittels zu spüren, und auf Marys nächsten Schritt gewartet. Bald schon wurde klar, dass sie zu fliehen gedachte. Als sie den Tower verließ, folgte er ihr und versteckte sich in dem schattigen Durchlass der äußeren Burgmauer. Er konnte das Ausmaß ihres Trotzes kaum fassen.
Und nun verflog alle Wut im Nu. Mit einem Schrei katapultierte sich Stephen aus dem Durchlass, als der schwarze Fluss Mary verschlang.
Am Dock hielt er inne, legte sein Schwertgehenk ab und suchte die sich kräuselnde Wasseroberfläche ab in der Hoffnung, Mary werde wieder auftauchen. Dann riss er sich die Tunika vom Leib und zog die Stiefel aus. Noch immer keine Spur von Mary.
An der Stelle, wo sie untergegangen war, sah das Wasser wieder glatt aus.
Sein Herz pochte schmerzhaft, doch er achtete nicht darauf und sprang.
Weniger als eine halbe Minute war verstrichen, seit sie ver schwunden war. Er sank weiter und weiter in die dunkle Tiefe, ohne jedoch eine Spur von ihr zu entdecken.
Die Schubkraft seines Sprungs war verbraucht. Stephen schwamm mit wilder Entschlossenheit weiter, er paddelte und wühlte mit den Armen wie ein Besessener. Seine Brust begann zu brennen. Wo war Mary?
Er weigerte sich, aufzugeben.
Er konnte es nicht.
Wenn er aufgab, würde sie
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