Die Geliebte des Trompeters
erdrückend. Der Bau verfehlte seine Wirkung nicht: Aus den unbefangen plappernden GIs wurden eingeschüchterte |39| Besucher, kaum, dass sie die gigantische Eingangshalle betreten hatten. Die Decke der Halle in unendlicher Höhe über ihnen, die zweiundzwanzig Säulen verschwanden darin.
Der Flughafen war niemals ganz fertiggestellt worden und sollte vielleicht auch nicht fertig werden. Zumindest hatte
der Führer,
während man das Werk seines Architekten allgemein bestaunte, längst andere Pläne für einen weiteren, noch größeren Flughafen außerhalb Berlins, während Tempelhof eine ganz andere Rolle zugewiesen bekommen hätte: Als Vergnügungspark konnte sich Hitler das Mammutbauwerk durchaus vorstellen. Der zukünftige Vergnügungspark indessen war keineswegs provisorisch gebaut, alles war auf lange Sicht geplant und für den Krisenfall, den Kriegsfall gerüstet. So verfügte Tempelhof über ein raffiniertes Bunkersystem und eine ausgeklügelte Versorgung, die den Flughafen nahezu autark machte: eine eigene Wasserversorgung, Strom – und fast fünf Kilometer unterirdisch verlaufender Versorgungsschächte, die auf gewundenen Wegen unter dem weitläufigen Gelände bis in die umliegenden Stadtteile liefen.
Die Kellergeschosse des Flughafens waren für die nicht Eingeweihten ein Labyrinth, ein Unkundiger konnte hier auf Nimmerwiedersehen verschwinden, und bei der Besichtigung ließ der Sergeant seine wohlig schaudernde Gruppe immer wieder durchzählen. Sie sahen die Heizungsräume. Sie öffneten Drahttüren. Sie tasteten sich durch dunkle Flure und stiegen durch gewaltige Treppenhäuser. Doppelte Türen. Blinde Gänge. Sie schwitzten. Sie staunten, als sie die herausgesprengte Tür zum Bunker passierten. Hier war ein geheimnisvolles Archiv der Nazis gewesen, erklärte man ihnen, ein Filmarchiv. Aber nichts als schwarz verbrannte Wände und verbogene Eisenregale wiesen auf das offenbar wertvolle, hier gelagerte Gut hin: Beim Einmarsch der Russen war alles verbrannt, ob durch die Sprengung der Tür oder durch ein |40| diabolisches Sicherungssystem der Nazis, war nicht mehr herauszufinden. Alles Zelluloid war verbrannt. Stumm gingen die Soldaten durch die finsteren Kellerräume. Sie bestaunten die Filter, die Klimaanlage, die Belüftung. Alles voller Ruß und Asche. Sie ritzten ihre Namen in die Decke, als der Sergeant nicht hinsah. Sie waren Touristen des Schreckens, aber der Schrecken blieb und war größer als alles, was sie sich bisher vorstellen konnten.
Der Junge merkte, dass diese Bilder sich von allem unterschieden, was er bisher in seinem Leben gesehen hatte. Er merkte, dass sich etwas in seinem Inneren veränderte, etwas, über das er keine Kontrolle hatte. Schlimmer noch und chaotischer als das, was man ihnen zeigte, waren die Bilder im Kopf, die sich nachts ineinanderschoben wie die verkanteten Teile eines Puzzles, die nicht zusammenpassten. Er wusste nicht, wovor er sich mehr fürchtete – davor, schlaflos zu liegen und all das Gesehene wieder und wieder Revue passieren zu lassen oder einzuschlafen und sich dieser Bilderflut im Traum auszusetzen, der er ohnmächtig ausgeliefert war.
Eines Nachts, als er wieder einmal vergeblich Schlaf suchte, hörte er plötzlich – Musik. Das war kein Kamerad, der es nicht lassen konnte, noch zu dieser Stunde den Armysender AFRS zu hören. Nein, das hier war echte, live gespielte Musik! Sie brach ab, setzte von neuem ein, offensichtlich wurde dieselbe Stelle wieder und wieder geübt. Der Junge setzte sich mit einem Ruck auf seiner Pritsche auf. Leise zog er sich im Dunklen an, schlich sich aus dem Schlafsaal und ging der Musik nach. Sie kam aus dem Nebengebäude, wo der Festsaal mit der großen Bühne war. Hier fanden gelegentlich Bankette statt, hier versammelten sich die Männer, wenn ein ranghoher Besucher zu ihnen sprechen sollte.
Es war alles dunkel in dem riesigen Raum – dunkel bis auf |41| die hell erleuchtete Bühne. Da standen sie, in vier Reihen gestaffelt, die sechsundfünfzig Mitglieder der 298th Army Band und spielten
O When The Saints
. Der Soldat musste lachen, ein Gospelsong in dieser Stadt der Toten – und noch dazu wie zu seiner Begrüßung gewählt. Er nahm es als gutes Zeichen. Noch nie hatte er irgendwo vorgespielt. Aber in dieser Nacht tat er es. Er ging nach vorn, machte sich bemerkbar, spielte auf dem Instrument irgendeines älteren Trompeters, und die sechsundfünfzig hörten aufmerksam zu, die Instrumente auf dem Schoß, als
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