Die Geliebte des Trompeters
darüber, die sie erst im letzten Augenblick ablegen würden, bis zu den Knöcheln im Schnee, nur damit der Sergeant dem Protokollchef irgendwann Meldung machte: Musik fällt aus, Ventile eingefroren! Und wieder zurück durch die Kälte, an den feixenden Soldaten aus anderen Einheiten vorbei, die die ganze Musikabteilung irgendwie weibisch fanden.
Wenn sie aber mal angefangen hatten zu spielen, mussten sie auf jeden Fall weitermachen. Es war nicht möglich, die Instrumente abzusetzen. Auch in den Pausen behielt der Soldat sein Mundstück zwischen den Lippen – er hätte es sonst nicht mehr berühren können vor Kälte. Wenn Musiker anreisten, |44| war es natürlich etwas anderes: Sammy Davis junior, Bing Crosby – alles, was Rang und Namen hatte, wollte der US Army in Berlin zeigen, dass sie zu Hause nicht vergessen waren – und sich bei dieser Gelegenheit vielleicht auch der eigenen Regierung in Erinnerung bringen. Einmal war sogar Ella Fitzgerald gekommen, und der Junge war wütend geworden, weil man ihnen den Besuch der berühmten Sängerin, wie so oft, erst auf dem Weg zum Flughafen mitgeteilt hatte. Sicherheitsgründe! Wie sollten sie jetzt, in der kurzen Zeit … Aber nein, Programm wie immer,
Sousa Marches
und ein, zwei Standards, und es herrschte eine wahre Hundekälte, so dass der Junge schon fürchtete, sie würden wieder nach Hause geschickt, weil das Flugzeug aus den USA, das mit zwei Zwischenstopps in Labrador und auf Island einen sensationell direkten Weg nach Europa nahm, es gar nicht nach Tempelhof schaffte.
Zitternd vor Kälte und Erwartung trat er von einem Bein aufs andere. Aber die Douglas DC 6 landete mit nur einer Stunde Verspätung, rollte aus, sie begannen zu spielen, und auf der rasch herbeigeschobenen Gangway zeigten sich die Honoratioren, die Berlin die Ehre erweisen wollten: ein paar Senatoren, die keiner kannte – und sie, die alle nur Ella nannten, im Leopardenmantel. Dann stand die Delegation auf dem Rollfeld, kleine Spielpause für die Armyband, denn nun wurden Begrüßungsworte gesprochen, und
sie
, offenbar gelangweilt, schaute zu ihnen herüber und sah sie stehen, die jungen Soldaten, die Bläser mit den Mundstücken ihrer Instrumente stumm zwischen den Lippen, wie riesige Babys mit metallenen Schnullern. Lächerlich kam er sich vor, hilflos.
Aber dann geschah es: Sie sah – ihn. Ella stöckelte vom roten Teppich durch den Schnee ein paar Schritte auf ihn zu, und dem Jungen wurde plötzlich heiß in seiner Galauniform, durch die der Berliner Wind pfiff, er wusste nicht, was er tun |45| sollte – da erhielten sie das Zeichen, weiterzuspielen, und
sie
blieb stehen. Nicht einmal erschrocken, eher respektvoll. Und dann stöckelte sie ebenso langsam zurück zu ihrer Delegation und applaudierte, als die Musiker geendet hatten.
Später erzählte der Junge, sie habe ihm die Hand geschüttelt, manchmal, wenn er sehr sentimental und sehr betrunken war, sagte er, sie habe ihm über den Kopf gestreichelt, aber das konnten die anderen nicht bestätigen, und Dick, der sich die Geschichte öfters anhören musste, lachte und sagte: Ich wette, du wolltest, dass sie dir etwas ganz anderes streichelt, Kleiner!
Der Wind war das Erste, was sich änderte. Er verlor seine Härte und Schärfe. Eines Tages pfiff er nicht mehr über die Trümmergrundstücke, sein Heulen weckte nicht mehr die erschöpften Menschen in den halb zerstörten Wohnungen. Ganz plötzlich war es still. Und als Riccarda an diesem Morgen aus dem Haus trat, müde, ungewaschen, sich selbst zwingend, wieder ihre Besorgungen zu machen, zwei Stunden für ein Brot, drei für Kartoffeln, irgendetwas Nützliches finden zwischen Alexanderplatz und Reichstagsruine, da hielt sie überrascht inne. Es war ruhig, sehr ruhig. Und doch hörte man etwas – die Stadt. Die Stadt atmete wieder. Und in dieses städtische Atmen hinein hörte sie – eine Amsel. Die Amsel war nicht zu sehen. Sie mochte sich zwischen den Trümmern auf dem Hinterhof versteckt haben, der mickrige Baum war längst gefällt, und Büsche und Sträucher hatte die Kälte vernichtet – aber die Amsel pfiff. Sie sang, sie tirillierte, als gäbe es für einen Berliner Vogel im März 1947 nichts Besseres zu tun. Irmgard sog die Luft ein. Die Luft war warm. Das Eis begann zu schmelzen. Und in der Stille mit den Amselliedschleifen darin hörte man allmählich ein Tropfen, ein Rinnen, ein Glucksen und Laufen – die ganze Stadt schmolz, die Stadt floss, die Stadt rann,
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