Die Geliebte des Trompeters
Großraum Berlin beunruhigten und provozierten. Dummerweise zeigten sich die Russen nicht halb so beeindruckt von der Vorführung wie die Berliner. Eine sinnlose Sache also, die die Motivation der Musiker nicht erhöhte, und so waren sie nach stundenlangem Probieren, Marschieren, nach dem Antreten und Stillstehen missmutig hoch ins Casino gegangen, wo ein Imbiss auf sie wartete, Sandwichs mit Erdnussbutter, kleine Würstchen, Salat. Ein paar machten sich an den Billardtischen zu schaffen, lustlos.
Chet hatte am Fenster gestanden und beobachtet, wie eine Douglas C 54 entladen wurde: Eine hölzerne Rutsche wurde aus dem Laderaum des Flugzeugs auf einen Hänger gelegt, und deutsche Arbeiter schippten ein paar Tonnen Kohle nach draußen. Sie machten das geschickt, sie machten das schnell, die Zusammenarbeit klappte anscheinend reibungslos, und Chet wunderte sich wieder einmal, wie ähnlich sich Sieger und Besiegte waren. Nicht zu unterscheiden, wie sie da Seite an Seite arbeiteten. Dabei waren die Deutschen erwachsene Männer, sicher hatten sie am Krieg teilgenommen. Das alles schien keine Rolle mehr zu spielen. Das alles schien hinter ihnen zu liegen. Was machte aus Fremden Feinde und dann aus Feinden plötzlich Verbündete?
Viel mehr als von den angeblich immer gefährlich bleibenden Deutschen war in letzter Zeit von den Russen die Rede gewesen. Die Russen kapselten sich ab in ihrem Sektor, sie versuchten, die Bevölkerung mit anti-amerikanischer Propaganda auf ihre Seite zu bringen, sie nutzten jede Möglichkeit zur ideologischen Schulung, und sie umgingen die gemeinsam getroffenen Abmachungen, wo es nur ging. Lieferten die Russen nicht die Milch für sechstausend Berliner Schulkinder, weil sich in ihrem Bereich die einzigen noch funktionierenden Milchhöfe befanden? Im Austausch dafür erhielten die Russen Mehl. Die Stimme des Corporals von der Versorgungstruppe |129| zitterte vor Empörung, als er erzählte, dass die Russen die Milchlieferung gestoppt hätten. Der Grund: Sie hatten von den Amerikanern verlangt, dass die die Milch persönlich im Umland abholten. Das war bequemer für sie, und sie sparten das kostbare Benzin. Als die Amerikaner ablehnten, stoppten die Russen die Lieferung ganz. Die Amerikaner stiegen auf Trockenmilch um, die sie aus den USA liefern ließen, aber die Beunruhigung blieb. Wozu waren die Russen noch imstande? Die Verbündeten, die sie für ihre Tapferkeit und ihren Opferwillen bewundert hatten, wurden immer rätselhafter.
Russen, Amerikaner, Briten und Franzosen sollten die Deutschen in Schach halten, den Frieden sichern und den Besiegten Demokratie beibringen – aber in Wahrheit, so kam es Chet vor, verschob sich die Grenze allmählich: Die westlichen Verbündeten auf der einen Seite, die Russen auf der anderen. Und die Deutschen? Irgendwo dazwischen. Wohin sollte das führen? Wieder einmal kam Chet nicht mit. Gleichgültig unterhielt er sich mit ein paar Kameraden, die Gedanken anderswo, und das Klack-Klack der Billardkugeln schien seinen Gedanken immer wieder eine andere Richtung zu geben. Spielst du ’ne Runde? Er nickte. Sie spielten zu viert. Sein Partner beschwerte sich, weil er sich nicht konzentrierte. Trotzdem gewannen sie. Trotzdem raunzte Chet ihn an. Sein Partner, versöhnlich, spendierte ein Bier. Irgendwann trat Chet zurück ans Fenster. Inzwischen war es fast dunkel geworden. Fünf Stockwerke tiefer lag das Rollfeld vor ihnen. Keine Maschine war mehr zu sehen. Die C 54 war längst zurückgeflogen zur Basis nach Frankfurt, und die Richtungsfeuer der Landebahn blinkten sinnlos in die Dämmerung. Bald war Feierabend für den Flughafen.
Plötzlich nahm Chet da unten eine Bewegung wahr. Er stutzte. Was war das? Noch einmal ein Streifen, ein Huschen. |130| Chet kniff die Augen zusammen und trat so nah wie möglich an das Fenster heran. An das Gebäude war eine Art Vorsprung gebaut, eine nur schwach beleuchtete Nische, in der der Müll des Casinos in kleinen Tonnen lagerte. An diesen Tonnen rührte sich etwas. Chet kniff die Augen zusammen, wischte die Scheibe, die von seinem Atem beschlug, mit dem Jackenärmel frei. Und jetzt sah er es deutlicher: An den Tonnen machte sich jemand zu schaffen. Es waren Männer. Es waren zwei der deutschen Arbeiter, die vorhin noch die C 54 entladen hatten. Was machten sie da? Und warum in dieser Heimlichkeit? Kein Zweifel, die Männer durchwühlten den Müll. In Chets Ohren begann es zu rauschen. Plötzlich hielten die Männer inne. Sie
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