Die Geliebte des Trompeters
Lampen erhellten, und er leuchtete so lange, weil die amerikanischen Radiomoderatoren so geschäftig waren. Manchmal merkte man, dass die Moderatoren nicht allein waren. Dann reichte jemand hörbar einen Zettel ins Nachrichtenstudio, dann schäkerte ein Moderator mit der Regie. Radiomachen, begriff Ricky, war etwas für eingespielte Teams, es war überhaupt etwas für Spieler und es hatte etwas von einem Sport. Gab es etwas, das die Amerikaner nicht als Sport betrachteten?
Das Radiogerät in der Küche war nicht besonders gut, es rauschte und knackste. Ricky wartete immer auf die Stimme von Mark White. Mark White interviewte Sportler. Und |155| Politiker. Und Marlene Dietrich, über die die Leute sagten, sie sei eine Vaterlandsverräterin. Die Stimme der Dietrich war so einnehmend und so müde. Nicht selten geschah es, dass Ricky einschlief, den Kopf ans Radio gelehnt. Dann weckte sie Renate, wenn sie spät nach Hause kam, vorsichtig, und Werner machte sich ein bisschen über sie lustig: Du bist gar keine Amibraut – du bist eine Radiobraut! Und Renate brachte die schlaftrunkene kleine Schwester ins Bett, als wäre sie noch ein Kind. In der Küche blieb Werner zurück und wartete. Er brannte darauf, Renate einen Katalog zu zeigen, Bilder des Malers, für den er arbeitete und für den er durchs Feuer gegangen wäre. Durchs Feuer gegangen war Werner allerdings schon, allerdings für den Führer, dabei hatte er ein Bein verloren, und seit eine Luftmine direkt an ihm vorbei in eine Gruppe von Kameraden geschlagen war, wurde er den Tinnitus in den Ohren nicht los: ein scheußliches, ständiges Pfeifen.
Werner war zwanzig. Er half dem berühmten Maler, so gut es eben ging mit dem einen Bein; Gehilfe war genug, Werner glaubte nicht daran, dass man
mit einem halben Gehwerkzeug ein ganzer Maler
werden konnte. Ein halbes Gehwerkzeug, so redete er. Der Katalog seines Meisters war dünn und die Farben waren miserabel gedruckt, aber es war der erste Ausstellungskatalog nach dem Krieg, es war das erste Produkt des neuen Kunstbetriebs. Die Bilder des berühmten Malers hatten sie mit der Straßenbahn in die Ausstellungshalle gebracht, ganz langsam, Bild für Bild. Langsam, fast andächtig blätterte Werner jetzt. Es waren ungewohnte Bilder, noch nie gesehene Bilder, ganz andere als die, die der Führer und seine Gesellen gefördert hatten.
Manchmal dachte Werner, dass er es doch schaffen könnte, mit nur einem Bein, auch, wenn er nicht den ganzen Tag vor der Leinwand stehen könnte. Wenn er malte, hörte er das Pfeifen in seinem Kopf nicht mehr so laut. Endlich kehrte |156| Renate zurück und setzte sich zu ihm. Wie gut er ihren Geruch schon kannte! Dabei hatte er sie noch nie berührt. Das wagte er nicht. Renate wartete ab. Und Ricky träumte von riesigen Meereswellen in Kalifornien, auf denen Marlene Dietrich ritt. Neuerdings hatte sie schöne Träume.
Kirschen! Sie hatten tatsächlich Kirschen entdeckt. Auf der Suche nach einem geschützten Platz hatten sich Ricky und Chet immer weiter von den anderen entfernt, waren immer weiter am Ufer entlanggelaufen, Hand in Hand. Chet mochte Rickys Hände, sie waren klein und schwielig. Rickys Hände erinnerten ihn an ihre Füße, und die Füße, das war beinahe das Beste an dem Mädchen. Chet hatte nicht gewusst, dass er Füße mochte. Er hatte sich gewundert über manche Offiziere, die sich damit hervortaten, ihren
Frauleins
teure Schuhe aus Frankreich mitzubringen. Sie zeigten die Schuhe herum wie Eroberungen und prahlten mit den roten oder schwarzen Pumps vor den anderen. Einmal hatte ein völlig betrunkener englischer Captain im Y.M.C.A. Club darauf bestanden, dass man einen der neuen roten Stöckelschuhe seiner Liebsten mit Brandy auffüllte – und den hatte er dann vor aller Augen leergetrunken, bevor er seinen nun bräunlich verschmierten Mund auf den der Geliebten presste. Der Schuh war achtlos zu Boden geworfen worden, und Chet sah, wie die Frau die ganze Zeit diesen einen Schuh im Auge behielt.
Schuhe waren etwas Kostbares, fast so kostbar wie Strümpfe – und auf jeden Fall noch begehrter als Schokolade und Kaffee. Ricky brauchte keine Schuhe. Und auch keine Strümpfe. Fand Chet. Er liebte ihre kleinen, festen, sehr flachen Füße mit den runden, pummeligen Zehen. Nur der große Zeh war anders: flach und breit, als wäre er schon etwas länger auf der Welt als die anderen. Der große Zeh war als einziger erwachsen. |157| Trotzdem küsste Chet auch diesen Zeh gern.
Weitere Kostenlose Bücher