Die Geliebte des Trompeters
Nicht ganz so gern wie die anderen, aber dafür war dieser größere und erwachsenere Zeh besonders dankbar für Zuwendung. Verblüfft stellte Chet fest, wie still Ricky hielt, wenn er ihre Zehen in den Mund nahm und daran lutschte, wie sie leise seufzte, wenn er sich mit den Zwischenräumen beschäftigte und wie sie kaum merklich zuckte, wenn er mit dem Daumennagel über die Fußsohle strich.
Rickys Fußsohlen waren hart, der rechte Fuß noch härter als der linke, weil Ricky mit dem rechten Fuß fester auftrat. Alles machte sie mit rechts heftiger, das kam von den schweren Lasten, die sie in den letzten Jahren hatte tragen müssen – Wassereimer, Kohlesäcke, Steine, immer mit rechts. Das spürte man ihrem Körper an. Empfindlich aber war auch der rechte Fuß geblieben, trotz der ledernen Haut, die eine deutlich dunklere Farbe aufwies als der linke Fuß, und manchmal rückte Chet ein Stück von Ricky ab, setzte sich ihr gegenüber, hieß sie, die Beine auszustrecken, und hielt beide Füße in die Höhe, die Sohlen vor seinem Gesicht. Als ob er darin lesen könnte.
Ricky war das erst ein bisschen peinlich. Es war nicht weit her mit der Reinlichkeit in diesen Tagen, und sie gingen meist weite Wege zu Fuß. Aber Chet bestand darauf. Er hatte etwas entdeckt. Etwas, das nur ihm gehörte und das er mochte. Es wurde ein Spiel daraus. Manchmal gingen sie nur, um sich irgendwann hinzusetzen. Manchmal zögerten sie es hinaus. Bis sie, an diesem heißen Tag Anfang Juli, die Kirschen entdeckten.
Die Kirschen hingen in aller Unschuld an einem Baum. Ricky schrie auf, dann hielt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. Chet ahnte, was in ihr vorging: Es war ein ganz normaler Kirschbaum, und der Baum trug schwer an seiner Last. Der Kirschbaum war ein Kirschbaum. Die Früchte daran |158| waren Kirschen. Es war so normal, wie ein Kirschbaum nur sein konnte. Und genau das war das Ungeheuerliche. Ein leiser Wind ging. Man hörte die Blätter rauschen. Die Blätter hatten ein sattes Grün, und die Kirschen glänzten saftig und dunkelrot. Ricky stürzte sich darauf, ohne auf Chet zu warten. Sie riss mit beiden Händen Kirschen von den Zweigen, in ihrer Gier riss sie die Zweige gleich mit ab und stopfte sie sich in den Mund. Dann wieder pflückte sie hastig die Kirschen von den Stielen ab, stopfte sich so viele wie möglich auf einmal in den Mund. Mit Kauen hielt sie sich kaum auf. Bald troff ihr der rote Saft von den Mundwinkeln, tropfte auf ihre Bluse, auf den Rock. Sie merkte es nicht. Sie aß.
Chet wunderte sich längst nicht mehr über diese enorme Gier der Deutschen. Er dachte an seine ersten Wochen in Berlin, daran, wie ein fühlloser Colonel ihm diese angeblich deutsche Unart vorführen wollte: Sie sind wie Hunde, Männer, ihr werdet sehen, dass sie wie Hunde sind!, sagte der, sicher über die Wirkung seines Experiments. Sie waren im Jeep unterwegs, der Colonel und sein Fahrer vorn, drei Rekruten hinten. Chet wusste nicht mehr, wohin sie unterwegs gewesen waren. Aber er erinnerte sich an die Gruppe von Deutschen, die plötzlich am Straßenrand gestanden hatten: Alte, Halbwüchsige, Frauen jeden Alters dabei. Da hatte der Colonel noch einen Zug aus seiner Zigarette genommen, dann das Fenster geöffnet und den Leuten seinen noch glimmenden Stummel vor die Füße geworfen. Sofort stürzte sich die Gruppe auf den Zigarettenrest, einer war dem anderen im Weg, sie drängelten rücksichtslos, sie waren wie von Sinnen. Der Colonel zuckte die Achseln: So sind sie!, sagte er verächtlich. Sein Fahrer gab wieder Gas.
So sind sie nicht, dachte Chet jetzt. So sind alle, die Hunger haben. Und er dachte an den Mann, der im Müll gewühlt hatte, an seine Verzweiflung. Es war nicht lange her. Und |159| doch: Dies hier war anders. Im Sommer 1947 hatte sich etwas verändert. Die Versorgungslage war immer noch heikel, die Menschen nahmen viel zu wenige Kalorien zu sich, sie ernährten sich einseitig und vertilgten, was ihnen in die Hände fiel. Und dennoch war da ein Unterschied, und diesen Unterschied bemerkte er, während er Ricky beobachtete: Ricky lachte. Sie griff mit beiden Händen die köstlichen Früchte, sie stopfte maßlos alles in sich hinein – aber sie lachte. Sie konnte genießen. Chet merkte, wie sich etwas in ihm zusammenzog vor Freude. Und wie er gleichzeitig weinen wollte und lachen.
Also lachte auch Chet. Er nahm zum ersten Mal keine Rücksicht auf seine Zahnlücke. Es war ihm egal, wie er aussah, so, wie es ihr
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