Die Geliebte des Trompeters
denen sie nichts zu suchen hatten. Aber die Deutschen trauten dem Frieden nicht. Sie konnten mit der Stille nichts anfangen. Sie schauten nur zögernd in die Welt, wie Tiere, die sich über den Winter im unterirdischen Bau verkrochen haben und nun die ersten Schritte ins Freie tun. Die amerikanischen Besatzer kamen ihnen, nachdem sie die erste Bedrohlichkeit für sie verloren hatten, schrecklich unbedarft vor, selbstsicher und laut.
Die geben den Ton an, was?!, bemerkte Renate. Die wissen, wie der Hase läuft, drüben, in Amerika. Wer weiß, was die noch alles machen, und wir wissen nicht mal, wie das heißt. Verflixt noch eins, wo sind wir bloß gewesen?! Renate wurde allmählich wütend. Sie starrte immer noch auf das Foto, dann warf sie es beiseite. Weißt du, was wir alles verpasst haben?! Ricky wusste es nicht. Sie war zu jung gewesen, als der Krieg anfing. Aber sie ahnte es. Und sie wollte nie wieder so abgehängt werden, so
hinten dran sein.
Sie fing an,AFN zu hören. Auch das hatte ihr Chet beigebracht. Zwar verstand sie vorläufig nicht viel, wenn die Redakteure im fernen Frankfurt oder in München die Stars aus dem Showgeschäft interviewten, aber Ricky gewöhnte sich an die immer gleichen Stimmen, und mit der Zeit schnappte sie das eine oder andere auf. Wer da alles auftrat! Wer sich beim Radio interviewen |153| ließ! Es war gar nicht so einfach, AFN zu empfangen: Viele Sender verfügten über starke Frequenzen, es war kein Problem, den neuen Radiosender aus Bremen oder sogar einen aus München zu hören, aber die Auswahl machte es gerade schwierig: Im Kontor der Limonadenfabrik, in der Ricky neuerdings an zwei Tagen in der Woche arbeitete, wollten die Angestellten etwas anderes hören als AFN, sie wollten einen deutschen Sender, etwas Vertrautes, das ihnen Vertrautes lieferte. Ricky hingegen wollte das Neue. Sie wollte oben auf der Welle dahingleiten und sich die Sonne ins Gesicht brennen lassen. Sie wollte nach vorne schauen.
Manchmal machte Renate beim Radiohören mit. Es war besser, wenn Renate mitmachte, denn Werner, der Malergehilfe, der nun in der Küche wohnte, besetzte mit der Küche auch das einzige Radio in der überfüllten Wohnung, und für Renate war es leichter, ihn zu überreden, dass er sie
Music in the Air
und
Midnight in Munich
hören ließ. Manchmal aber hatte Werner partout keine Lust, dann musste Renate ihn beschäftigen und ging mit ihm ins Kino oder setzte sich mit ihm vor die schwer beschädigte Kirche und plauderte. Es war kurios: Im Krieg waren alle Fenster der Pauluskirche zu Bruch gegangen, bei einem schweren Angriff im Januar 1944 war das Dach abgebrannt, der rechte Treppenturm hatte in den letzten Kriegstagen noch ein Artilleriegeschoss abbekommen, und Wochen nach der Kapitulation war ein betrunkener russischer Panzerfahrer rückwärts in den rechten vorderen Anbau gerast. Im letzten Winter hatten die frierenden Berliner nach und nach alles Kirchengestühl weggeschleppt und verheizt – und dennoch war die Pauluskirche schon wieder ein Treffpunkt. Beharrlich trafen sich einmal in der Woche die wenigen, die noch glauben konnten, unter der Orgelempore zu einem schlichten Gottesdienst, beharrlich nutzten die anderen das Kirchengemäuer für ein Stelldichein, oder sie |154| saßen vor dem östlich gelegenen Chor auf großen Trümmerteilen, die sie als improvisierte Bänke nutzten. Werner zog es immer zu der Kirche hin, wenn er irgendwo eine Pappe fand oder einen alten Kalender, dann zeichnete er das angeschlagene Gotteshaus, und Renate begleitete ihn immer öfter. Ricky hatte den Eindruck, dass es Renate nicht schwerfiel, ihr den Gefallen zu tun und sich um Werner zu kümmern – auch, wenn Ricky gerade nicht Radio hören wollte. Werner machte wenigstens etwas. Werner war anders. Werner war interessant. Neuerdings organisierte Renate Stifte und Farben.
Ricky fand Radiohören allerdings unterhaltsamer zu dritt. Wenn sie allein Radio hörte, fühlte sie sich manchmal auf merkwürdige Weise einsam, obwohl doch Menschen mit wohlklingenden Stimmen zu ihr sprachen. Aber wo waren diese Menschen? Und wen meinten sie wirklich? Die Stimmen klangen sicher und zuversichtlich, sie erzählten von berühmten Showstars, die hier oder dort auf Tournee waren, sie berichteten von Baseball, von Hollywood und von Country Music, es waren Berichte von einem anderen Planeten.
Manchmal stellte sich Ricky vor, die Radiostation befände sich auf dem Mond. Der Mond leuchtete so kalt, weil ihn die neuen
Weitere Kostenlose Bücher