Die Geliebte des Trompeters
Platte, die sicher schon tausend Mal gespielt worden war, der Journalist von AFN in seinem Reportagewagen begann seinen Live-Bericht, und eine Schau fing an, die selbst eingefleischten Zirkusfans das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Chet und Ricky standen inmitten der Menge, Hand in Hand, und beobachteten, wie die ersten Akrobaten mit ihren Balancierstangen das Seil betraten, in aller Ruhe, wie Menschen, die eine kleine Furt im Wald überqueren. Beim nächsten Mal liefen sie schon schneller, dann rannten sie und sprangen übereinander – um schließlich Türme und aberwitzige Formationen zu bilden, menschliche und übermenschliche Gebilde zugleich, die von nichts zusammengehalten wurden als von Körperbeherrschung, Mut und einem glücklichen Zufall: Kein Lüftchen regte sich an diesem Tag in Berlin.
Ricky starrte mit schmerzendem Nacken in den blauen Himmel. Ihr kam es vor, als ob das Seil ein wenig schwankte – oder waren es die Aufbauten selbst? Vielleicht hielt das |205| Ganze auch nur, gerade weil es schwankte? Sie tastete wieder nach Chets Hand, aber der hatte sie in seiner Hosentasche vergraben und war völlig in den Anblick versunken. Sie gingen still nach Hause, Chet machte schon lange keine Anstalten mehr, sie nach oben zu begleiten, aber vor der Tür kramte er in seiner Jacke und schenkte ihr ein winziges Figürchen: eine Seiltänzerin, die sich anmutig drehte. Plötzlich ärgerte sich Ricky. Ihr wäre lieber gewesen, dass Chet sie vorhin zu einer Limonade eingeladen hätte. Und doch steckte sie die kleine Ballerina ein. So war Chet: zu nichts zu gebrauchen, sagte sie sich. Und dennoch …
Ein paar Wochen später half sie ihrer Schwester Renate beim Packen. Es hatte keinen Sinn, sie aufhalten zu wollen. Werner hatte Berlin verlassen und eine Adresse in Bayern aufgesucht, die ihm sein Maler zugesteckt hatte. Murnau, am Staffelsee. Noch nie hatten die Schwestern davon gehört. Aber Werner schrieb, es gehe ihm gut, er wolle, dass Renate nachkomme. Und Renate zögerte nicht lange. Mit der Entschlossenheit, die Ricky schon immer ein wenig Angst gemacht hatte und die sie an die Mutter erinnerte, beschloss Renate, alles auf eine Karte zu setzen.
Der Krüppel!, schnaubte der Vater verächtlich, aber sein Schnauben hatte etwas Klägliches, Verröchelndes. Ricky legte Renates Kleider zusammen. Irmgard lief mit verweinten, rot geäderten Augen herum.
Es ist doch nur Bayern!, sagte Frau Wegener tröstend, als habe sie eine Vorstellung davon, wo dieses Kaff läge. Es ist schließlich nicht aus der Welt!
Ich seh sie nicht wieder, entgegnete Irmgard verzweifelt. Ich weiß es genau.
Und begann wieder ihr sinnloses Auf und Ab. Vielleicht hoffte sie, dass Renate ihr widerspräche. Vielleicht hoffte sie, |206| dass Renate etwas Begütigendes sagte, etwas Versöhnliches. Aber die tat ihr den Gefallen nicht. Holz von meinem Holz!, dachte Irmgard verzweifelt. Sie nahm sich keine Zeit für Widerreden, auch nicht für Beschwichtigungen. Wie Mutter!, dachte Ricky voller Bewunderung, in die sich Furcht mischte. Werner hatte Arbeit gefunden, bei einem Kunstmaler, der die Verzierungen der einst prachtvollen Bauernhäuser erneuerte. Kein Wort von seiner Behinderung in seinen Briefen, nur Aufbruch und Mut und eine Fröhlichkeit, die hier fremd wirkte, wie ein stark reizendes Gewürz.
Sie schleppten Koffer und Kisten nach unten. Der Fuhrmann würde Renate zur Bahn kutschieren. Ihr stand eine lange Reise bevor. Ricky wartete allein mit einer Kiste vor dem Haus und strich nachdenklich über die nagelneuen Adressaufkleber. Und wenn da nun New York stünde? Oder Alabama? Sie hatte viele solcher Wörter aufgeschnappt in den letzten Wochen, Wörter, die wie Verheißungen klangen.
Chet, der im Café schräg gegenüber lauerte, begierig zu erfahren, dass sie ihn betrog, begierig zu erfahren, dass er sich täuschte, beobachtete, wie Ricky ihre Reisevorbereitungen traf oder das, was er dafür halten musste. Sie wollte also weggehen mit diesem Schwarzen. Sie hatte die Koffer schon gepackt. Und ihre Familie half ihr dabei. In ihm verhärtete sich etwas, wurde eckig, wurde nachtblau, wurde kalt. Er zahlte und ging. Der Wirt sammelte das Kleingeld in einer Zigarrenkiste.
Antwerpen-Boston-Linie
stand auf dem Etikett, das einen imposanten Dampfer bei voller Fahrt zeigte.
Abends wunderte sich Dick über Chet. In dessen Gesicht entdeckte er einen neuen Zug, etwas Abweisendes, Frostiges. Aber Chet wollte nicht reden, er wollte feiern!
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