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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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werden wir ausstellen.
    Irmgard weinte, wenn sie die Karten las. Alle Kraft schien sie verlassen zu haben, seit Renate fort war. Und Marie. Frau Wegener war es jetzt, die sich kümmerte. Frau Wegener ließ sich Renates Postkarten auch ein fünftes Mal vorlesen. Frau Wegener war es, die sich rechtzeitig um das Ereignis des Herbstes kümmerte: Der Wechsel des amerikanischen Stadtkommandanten – da musste man doch unbedingt hin.
    |212| Die Berliner hatten gelernt, militärische Ereignisse als Volksfeste hinzunehmen, und so waren sie, zum Teil wenigstens, gedacht. Sorgsam achteten die westlichen Alliierten darauf, einerseits militärische Stärke gegenüber den Russen zu zeigen und andererseits den Berlinern Vertrauen einzuflößen. Nie war die Army Band öfter aufgetreten als in der zweiten Jahreshälfte 1947.   Rund um die Uhr waren die Musiker im Einsatz. Mittlerweile hatte der Bandleader einen Bus beschafft, und der war auch dringend nötig, denn zwischen zwei Auftritten in ganz verschiedenen Stadtteilen gab es oft nur den Bus, um sich ein frisches Hemd anzuziehen. Und frische Hemden mussten sein! Propper, sauber, frisch – so sollte das Image der siebenundfünfzig Musiker sein, aufgeräumt wie die Märsche, die sie spielten, vorwärtsdrängend wie die Bläsersätze, in denen sie die Hits der 30er und 40er umgeschrieben hatten. Die Musiker, so wurde ihnen eingebläut, waren Botschafter der Vereinigten Staaten. Sie hatten ein Bild des friedlichen, aber disziplinierten Amerika zu vermitteln. Sie sollten zeigen, dass die Besatzungsarmee keine Bedrohung war. So kamen manchmal zwei, drei Auftritte an einem Tag zusammen, bei den Franzosen, bei den britischen Verbündeten und auf deutschen Volksfesten. In Kirchen und Bierzelten. Und zwischendurch machten sie Abstecher, einmal sogar eine kleine Tournee nach Norwegen.
    Ricky fand eine neue Arbeit. An zwei Nachmittagen in der Woche saß sie bei einem Speditionsunternehmer im Kontor und füllte Lieferscheine aus. Der Mann hatte eine Konzession von den Amerikanern, mit ihnen machte er seine besten Geschäfte. Steve hatte ihr den Job verschafft, und manchmal kam er vorbei, um sie abzuholen. Dann verstummten die Kolleginnen an den anderen Schreibmaschinen, teils neidisch, teils schockiert: Ein schwarzer Mann an der Seite einer Deutschen, das war die Sorte Skandal, die wohlige Schauer über |213| den Rücken jagte. Steve tat, als gingen ihn die aufdringlichen Blicke nichts an. Er sorgte dafür, dass in seinen Taschen immer genug Geschenke waren. Es machte ihm Spaß zu schenken. Es war nicht immer so gewesen, dass er der Großzügige sein konnte.
    Rickys Leben nahm Fahrt auf. Sie bekam Chet kaum zu Gesicht, fragte sich aber immer noch, was er eigentlich tat. Warum er tagelang verschwand. Warum er manchmal vor ihrem Haus, in ihrer Straße, gesehen wurde. Dann stand sie am Fenster und schaute sinnlos hinaus – bis in ihren Hinterhof war er ja nie gekommen.
     
    Der Tag des Kommandantenwechsels war kalt, der erste Dezember 1947, der erste Vorbote des Winters, und Ricky, Irmgard und Frau Wegener zogen alles an, was sie an warmer Kleidung auftreiben konnten. Je näher sie zum Tiergarten kamen, umso mehr Menschen begegneten ihnen. Ricky genoss dieses Gefühl, wenn Menschen, wie angesogen, auf einen bestimmten Platz zuströmten, aus allen Richtungen, man das Ziel, auf das sie zusteuerten, aber noch nicht sehen konnte. Diese Aufregung in den Gesichtern, diese Erwartung, diese Ungeduld! Man konnte sich alles mögliche vorstellen, was der Anlass der allgemeinen Eile sein könnte: die Geburt eines dreiköpfigen Kalbes im Zoo. Die Ankunft eines sagenhaften Schauspielers. Oder sie wären alle eingeladen zu einer unglaublichen Reise, die am Anhalter Bahnhof begönne. Den Anhalter Bahnhof gab es nicht mehr – oder nur noch in Ruinen. Aber es war vorstellbar, dass er wieder aufgebaut würde, oder dass ein anderer gegründet würde.
    Wenn Ricky diese Menschenmassen sah, schien ihr alles möglich. Denn diese Menschen wollten ja alle dasselbe. Sie liefen Kilometer um Kilometer. Sie standen stundenlang Schlange. Sie kratzten ihr letztes Geld zusammen. Alles, um |214| Charles Laughton zu sehen. Oder Charlie Chaplins neuen Film. Alles, um unterhalten zu werden. Alles, um sich zu amüsieren. Es war, als müssten sie dem tödlichen Ernst der letzten Jahre die gleiche Menge an Vergnügungen entgegenstellen. Es war, als müssten sie sich alle entgiften. Aber es war eine Kur, die süß schmeckte. Die

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