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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Hausapotheke«, befahl Mutter Hildegarde. »Geben Sie ihnen passende Kleidung, dann führen Sie sie durch die Krankensäle. Sie können bei der Essensausgabe helfen - wenn sie es wünschen.« Wie ein leichtes Zucken um ihre dünnen Lippen verriet, ging sie davon aus, daß die frommen Absichten der Damen den Rundgang durch die Krankensäle nicht überleben würden.

    Mutter Hildegarde war eine gute Menschenkennerin. Drei der Damen verabschiedeten sich bereits nach dem ersten Saal; unter dem Eindruck von Skrofulose, Krätze, Ekzemen, Ausfluß und stinkender Pyämie gelangten sie zu der Überzeugung, daß ihrer mildtätigen Gesinnung mit einer finanziellen Zuwendung an das Spital vollauf Genüge getan wäre. Fluchtartig kehrten sie in die Apotheke zurück und entledigten sich der groben Sackleinengewänder, mit denen man uns ausgestattet hatte.
    Mitten im nächsten Saal führte ein großer, schlaksiger Mann in einem dunklen Gehrock eine Beinamputation durch - was besonderes Geschick erforderte, da der Patient offensichtlich nicht betäubt war. Zwei stämmige Pfleger hielten ihn fest, und auf seiner Brust saß eine kräftige Nonne.
    Eine der Damen hinter mir gab einen würgenden Laut von sich; als ich mich umdrehte, sah ich nur noch die wallenden Gewänder zweier Möchtegern-Samariterinnen, die sich gleichzeitig durch die enge Tür in den Flur zu zwängen versuchten. Nach einem verzweifelten Zerren kamen sie endlich frei und flohen Hals über Kopf in Richtung Apotheke und Freiheit. Dabei rannten sie beinahe einen Pfleger um, der ein Tablett mit Leintüchern und Operationsinstrumenten trug.
    Amüsiert bemerkte ich, daß Mary Hawkins noch immer neben mir stand. Ihr Gesicht war etwas weißer als die Operationstücher - die, um ehrlich zu sein, eher schäbig grau waren. Aber immerhin war sie noch da.
    »Vite! Dépêchez-vous!« rief der Wundarzt gebieterisch und meinte damit wohl den gestrauchelten Pfleger, der hastig sein Tablett aufnahm und im Laufschritt zu dem großen, dunklen Arzt eilte. Dieser wartete mit der Knochensäge in der Hand, um mit der Abtrennung eines bloßliegenden Oberschenkelknochens zu beginnen. Als der Pfleger eine zweite Aderpresse angelegt hatte und die Säge mit einem unbeschreiblich gräßlichen Geräusch in den Knochen fuhr, erbarmte ich mich meiner Begleiterin. Ich nahm Mary Hawkins’ zitternden Arm und drehte sie weg. Ihre pfingstrosenfarbenen Lippen waren bleich wie eine erfrorene Blume.
    »Möchten Sie gehen?« fragte ich höflich. »Mutter Hildegarde ruft Ihnen bestimmt eine Kutsche.« Nach einem flüchtigen Blick auf den dunklen, menschenleeren Flur fügte ich hinzu: »Ich fürchte, die Comtesse und Madame Lambert sind bereits fort.«

    Mary schluckte hörbar, reckte jedoch entschlossen das Kinn vor.
    »N-nein«, sagte sie. »Wenn Sie bleiben, bleibe ich auch.«
    Ich wollte auf jeden Fall bleiben. Meine Neugier und das Interesse an den Behandlungsmethoden im Höpital des Anges waren stärker als mein Mitgefühl für Mary.
    Schwester Angelique, die schon weitergegangen war, ohne unsere Abwesenheit zu bemerken, kam zurück. Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen wartete sie geduldig, als rechnete sie damit, daß auch wir davonlaufen würden. Ich beugte mich über eine Pritsche in der Ecke, wo eine sehr magere Frau unter einer dünnen Decke lag und mit trübem, mattem Blick an die Decke starrte. Es war weniger die Frau, die mein Interesse geweckt hatte, als das merkwürdig geformte Glasgefäß neben ihr auf dem Boden.
    Das Gefäß war randvoll mit Urin. Das überraschte mich ein wenig. Was konnte man schon ohne chemische Untersuchungen oder zumindest Lackmuspapier mit einer Urinprobe anfangen? Doch als ich überlegte, auf welche Krankheiten man Urin untersuchte, kam mir eine Idee.
    Ungeachtet Schwester Angeliques Protestes, nahm ich behutsam das Gefäß und roch daran. Unverkennbar: Überlagert von dem saueren Ammoniak hatte die Flüssigkeit einen unangenehm süßlichen Geruch - so ähnlich wie gesäuerter Honig. Ich zögerte, doch es gab nur eine Methode, um sicherzugehen. Mit leichtem Ekel steckte ich die Fingerspitze in das Glas und leckte vorsichtig daran.
    Mary starrte mich mit hervorquellenden Augen an und würgte, doch Schwester Angelique beobachtete mich interessiert. Ich befühlte die Stirn der Frau - kein Fieber, das die Auszehrung erklären könnte.
    »Sind Sie sehr durstig, Madame?« fragte ich die Patientin. Allerdings kannte ich die Antwort schon, als ich die leere Karaffe

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