Die Geliehene Zeit
neben ihrem Bett sah.
»Ja, ständig«, antwortete sie. »Und ich habe auch immer Hunger. Aber soviel ich auch esse, ich bekomme kein Fleisch auf die Rippen.« Sie hob einen spindeldürren Arm hoch, dann ließ sie ihn fallen, als hätte sie sich überanstrengt.
Ich tätschelte ihre knochige Hand und murmelte ein paar Abschiedsworte. Die Freude über meine richtige Diagnose wurde erheblich gedämpft durch den Umstand, daß es in dieser Zeit keine Heilung für Diabetes mellitus gab; die Frau war todgeweiht.
Bekümmert erhob ich mich und folgte Schwester Angelique, die ihren raschen Schritt verlangsamte, um neben mir zu gehen.
»Können Sie denn feststellen, was ihr fehlt, Madame?« fragte die Nonne neugierig. »Allein am Urin?«
»Nicht nur daran«, erwiderte ich. »Aber ich weiß, was sie hat. Sie ist...« Verdammt. Wie hätte man das in dieser Zeit genannt? »Sie ist... zuckerkrank. Sie kann die Nahrung, die sie zu sich nimmt, nicht verwerten, und trinkt ungeheuer viel. Folglich scheidet sie auch große Mengen Urin aus.«
Schwester Angelique nickte, und auf ihrem rundlichen Gesicht lag ein Ausdruck gespannter Neugierde.
»Und meinen Sie, daß sie wieder gesund wird, Madame?«
»Nein«, antwortete ich ohne Umschweife. »Die Krankheit ist schon ziemlich weit fortgeschritten; sie wird den Monat wohl nicht überleben.«
»Ah.« Sie musterte mich mit respektvoll hochgezogenen Augenbrauen. »Dasselbe hat auch Monsieur Parnelle gesagt.«
»Und was ist das für einer?« fragte ich schnoddrig.
Verblüfft runzelte die dickliche Nonne die Stirn. »Nun, ich glaube, beruflich stellt er Bruchbänder her und ist Juwelier. Aber hier bei uns arbeitet er als Harnbeschauer.«
Jetzt war ich selbst verblüfft. »Ein Harnbeschauer?« fragte ich ungläubig. »So etwas gibt es wirklich?«
»Oui, Madame. Und er hat über die arme magere Dame dasselbe wie Sie gesagt. Ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die in der Wissenschaft der Harnuntersuchung bewandert ist.«
Schwester Angelique starrte mich mit unverhohlener Bewunderung an.
»Tja, Schwester, es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt«, meinte ich gnädig. Doch als sie mit ernster Miene nickte, schämte ich mich meiner Spöttelei.
»Da haben Sie recht, Madame. Wollen Sie sich vielleicht den Herrn im hinteren Bett ansehen? Wir vermuten, daß er leberkrank ist.«
So wanderten wir von einem Bett zum anderen, bis wir den Rundgang durch den riesigen Saal hinter uns gebracht hatten. Ich sah Krankheiten, die ich nur aus medizinischen Handbüchern kannte, und traumatische Verletzungen aller Art, von Kopfwunden, die von einer Wirtshausschlägerei herrührten, bis zu einem
Fuhrmann, dem ein rollendes Weinfaß den Brustkorb eingedrückt hatte.
An manchen Betten verweilte ich und befragte diejenigen Patienten, die zu einer Antwort fähig schienen. Ich hörte, wie Mary hinter mir durch den Mund atmete, vergewisserte mich aber nicht, ob sie sich tatsächlich die Nase zuhielt.
Am Ende des Rundgangs sah mich Schwester Angelique mit einem ironischen Lächeln an.
»Nun, Madame? Wollen Sie immer noch dem Herrn dienen, indem Sie seinen bedauernswerten Geschöpfen helfen?«
Ich krempelte bereits die Ärmel hoch.
»Bringen Sie mir eine Schüssel heißes Wasser, Schwester«, antwortete ich, »und Seife.«
»Wie war’s, Sassenach?« fragte Jamie, als er mich auf der Chaiselongue liegend vorfand.
»Entsetzlich!« erwiderte ich mit einem strahlenden Lächeln.
Er zog eine Augenbraue hoch, dann lächelte er zu mir herab.
»Dann hat es dir also Spaß gemacht, ja?«
»Ach, Jamie, es ist so wunderbar, endlich wieder zu etwas nütze zu sein! Ich habe Böden gewischt, Patienten mit Haferschleim gefüttert, und als Schwester Angelique nicht hersah, konnte ich ein paar Leuten frische Sachen anziehen und ein Geschwür öffnen.«
»Schön«, meinte er. »Hast du inmitten all dieses Vergnügens wenigstens daran gedacht, etwas zu essen?«
»Äh... nein, habe ich nicht«, gestand ich. »Andererseits habe ich aber auch meine Übelkeit vergessen.« Wie zur Erinnerung an mein Versäumnis begann sich mein Magen plötzlich zusammenzukrampfen. Ich preßte die Hand unter den Brustkorb. »Vielleicht sollte ich einen Happen zu mir nehmen.«
»Ja, das solltest du vielleicht«, pflichtete er mir etwas vorwurfsvoll bei und griff nach der Glocke.
Unter seinem gestrengen Blick vertilgte ich brav Fleischpasteten und Käse, während ich überschwenglich und in
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