Die Geliehene Zeit
tatsächlich Mutter Hildegardes Hausgeist war.
Sie redete oft mit ihm, und zwar nicht in der Art und Weise, wie man gewöhnlich mit Hunden spricht, sondern als würde sie eine wichtige Angelegenheit mit einer ebenbürtigen Person besprechen. Wenn sie an diesem oder jenem Bett verweilte, sprang Bouton oft auf die Matratze und beschnüffelte den erstaunten Patienten. Dann
setzte er sich - meist auf die Beine des Kranken -, bellte einmal und wedelte mit dem Schwanz. Dabei sah er Mutter Hildegarde auffordernd an, als wollte er ihre Meinung zu seiner Diagnose hören - die sie ihm auch prompt sagte.
Obwohl ich begierig war, das ungleiche Paar einmal aus nächster Nähe bei der Arbeit zu beobachten, ergab sich erst an einem düsteren, verregneten Vormittag im März die Gelegenheit dazu. Ich stand am Bett eines Fuhrmanns mittleren Alters und unterhielt mich beiläufig mit ihm, während ich mir den Kopf zerbrach, was mit ihm nicht stimmte.
Man hatte ihn vorige Woche hergebracht. Er war mit dem Unterschenkel in die Speichen seines Wagens geraten, als er abstieg, bevor das Fahrzeug zum Stillstand gekommen war. Der Bruch war kompliziert, aber nicht bedenklich. Ich hatte den Knochen eingerichtet, und die Wunde schien schön zu verheilen. Das Gewebe hatte eine gesunde rosa Färbung und eine gute Granulation; es roch nicht unangenehm, wies keine verräterischen roten Streifen auf und war nicht sonderlich empfindlich. Es war mir ein Rätsel, warum dieser Mann immer noch vor Fieber glühte und einen dunklen, übelriechenden Urin ausschied, der auf eine verschleppte Infektion hinwies.
»Bonjour, Madame«, hörte ich hinter mir eine tiefe, kräftige Stimme und blickte zu Mutter Hildegarde hoch. Im selben Moment sprang Bouton mit einem Plumps auf die Matratze, so daß der Patient aufstöhnte.
»Was meinen Sie?« sagte Mutter Hildegarde. Ich erläuterte ihr meine Beobachtungen.
»Also gibt es wohl einen zweiten Infektionsherd«, schloß ich. »Aber ich finde ihn nicht. Ich frage mich, ob er vielleicht eine innere Entzündung hat, die nichts mit dem verletzten Bein zu tun hat. Vielleicht eine Blinddarmreizung oder eine Blasenentzündung, aber ich kann auch keine erhöhte Druckempfindlichkeit des Unterleibs feststellen.«
Mutter Hildegarde nickte. »Das wäre jedenfalls möglich. Bouton!« Der Hund schaute mit schräggelegtem Kopf zu seinem Frauchen auf, das eine Kinnbewegung in Richtung Patient machte. »A la bouche, Bouton«, befahl sie. Trippelnd näherte sich der Hund dem Gesicht des Mannes und stupste es mit seiner schwarzen Knopfnase - der er vermutlich seinen Namen verdankte - an. Der Mann riß
entsetzt die fiebrigen Augen auf, doch die dräuende Gestalt von Mutter Hildegarde verbot jede Widerrede.
»Mund auf!« ordnete die befehlsgewohnte Stimme an, und der Mann gehorchte, wenngleich seine Lippen angesichts der unangenehmen Nähe des Hundes zitterten. Offenkundig stand ihm der Sinn nicht nach Hundeküssen.
»Nein.« Mutter Hildegarde beobachtete Bouton nachdenklich. »Das ist es nicht. Schau woanders, Bouton, aber vorsichtig. Denk daran, der Mann hat ein gebrochenes Bein.«
Als hätte der Hund tatsächlich jedes Wort verstanden, begann er neugierig an dem Patienten herumzuschnüffeln, steckte die Nase in die Achselhöhlen, dann stellte er sich auf die Brust und forschte dort weiter, ehe er sich der Leistenbeuge zuwandte. Als er zu dem verletzten Bein gelangte, stieg er vorsichtig darüber hinweg und schnupperte an der verbundenen Stelle.
Schließlich kehrte er zur Leistengegend zurück - na klar, dachte ich ungeduldig, er ist schließlich ein Hund - und stupste mit der Nase an den Oberschenkelansatz. Nach einem kurzen Bellen setzte er sich und wedelte triumphierend mit dem Schwanz.
»Das ist es«, sagte Mutter Hildegarde und deutete auf einen kleinen braunen Schorf knapp unterhalb der Leistenbeuge.
»Aber das ist doch schon fast verheilt«, wandte ich ein. »Es ist nicht entzündet.«
»Nein?« Die große Nonne legte eine Hand auf die Stelle und drückte kräftig darauf - der Fuhrmann brüllte wie am Spieß.
»Aha«, meinte sie zufrieden, als sie die tiefen Abdrücke ihrer Finger betrachtete. »Ein Fäulnisherd.«
Tatsächlich. Der Schorf hatte sich an einer Stelle gelöst, und darunter trat dicker, gelber Eiter hervor. Eine nähere Untersuchung - bei der Mutter Hildegarde den Mann festhalten mußte - löste das Rätsel. Als das Wagenrad zerbrochen war, hatte sich ein langer Holzsplitter tief in den Oberschenkel des
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