Die Geliehene Zeit
mir überdeutlich vor Augen.
Die Sonne ging schon fast unter, als ich mich müde nach Hause schleppte. Louise war, vor Nervosität zitternd, oben in ihrem Zimmer, wo sie sich von ihrer Zofe die Haare frisieren ließ und sich mit ihrem gewagtesten Kleid herausputzte, ehe sie zu einem trauten Abendessen mit ihrem Gemahl hinuntergehen wollte. Ich war völlig erschöpft und hoffte, Jamie hatte niemanden zum Essen eingeladen; ein ruhiger Abend wäre auch mir sehr willkommen.
Jamie war allein. Als ich das Arbeitszimmer betrat, rätselte er über drei oder vier eng beschriebenen Blättern.
»Meinst du, bei dem ›Pelzhändler‹ könnte es sich eher um König Louis handeln oder um seinen Finanzminister Duverney?« fragte er, ohne aufzusehen.
»Gut, danke, und wie geht es dir ?« erwiderte ich.
»Gut«, sagte er geistesabwesend. Einige widerspenstige Haarbüschel standen ihm vom Kopf ab, als er sich das Haar raufte.
»Der ›Schneider von Vendôme‹ ist bestimmt Monsieur Geyer«, fuhr er fort, »und ›unser gemeinsamer Freund‹ - das könnte entweder der Graf von Mar oder der päpstliche Gesandte sein. Aus dem folgenden würde ich schließen, daß es sich um den Grafen handelt, aber...«
»Was um alles in der Welt ist denn das?« Ich spähte über seine Schulter und erblickte zu meinem Erstaunen die Unterschrift von James Stuart, König von England und Schottland.
»Donnerwetter! Es hat also geklappt!« Ich drehte mich um und entdeckte Fergus, der auf einem Schemel vor dem Kamin hockte und eifrig Gebäck in sich hineinstopfte. »Guter Junge«, sagte ich und lächelte ihm zu. Mit vollen Backen grinste er zurück.
»Den haben wir vom päpstlichen Boten«, erklärte Jamie, der meine Anwesenheit erst jetzt richtig zur Kenntnis nahm. »Fergus hat ihn aus seiner Tasche entwendet, während er in einer Taverne zu Abend aϐ. Dort wird er auch übernachten, und deshalb müssen wir den Brief vor Tagesanbruch wieder in die Tasche geschmuggelt haben. Meinst du, daß es schwierig wird, Fergus?«
Der Junge schluckte hinunter und schüttelte den Kopf. »Nein, Herr. Er schläft allein im Zimmer, weil er Angst hat, ein Schlafkamerad könnte ihm etwas aus seiner Tasche stehlen.« Dabei verzog er den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Das zweite Fenster von links, über dem Stall.« Er machte eine lässige Handbewegung, dann griff er mit flinken, schmutzigen Fingern nach einem weiteren Stück Kuchen. »Eine Kleinigkeit, Herr.«
Auf einmal sah ich vor mir, wie diese feingliedrige Hand auf einem Holzblock festgehalten wurde, während ein Henkersschwert zum Hieb auf das dünne Handgelenk ausholte. Ich schluckte, um eine plötzliche Übelkeit zu unterdrücken. Fergus trug eine kleine, grünliche Kupfermünze um den Hals - das Bildnis des heiligen Dismas, hoffte ich.
»Nun«, brachte ich nach einem tiefen Atemzug hervor, »was hat es denn mit diesen Pelzhändlern auf sich?«
Wir hatten keine Zeit, uns in Ruhe damit zu befassen. Ich fertigte lediglich eine rasche, saubere Abschrift des Briefes an, dann wurde er sorgsam zusammengefaltet und das Originalsiegel mit einer über der Kerzenflamme erhitzten Messerklinge wiederhergestellt.
Kritisch verfolgte Fergus die Prozedur und schüttelte den Kopf. »Sie sind wirklich begabt, Herr. Wie schade, daß die eine Hand verkrüppelt ist.«
Gleichgültig betrachtete Jamie seine Rechte. Eigentlich sah sie gar nicht so schlimm aus. Zwei Finger waren ein wenig krumm, und über den Mittelfinger zog sich eine breite Narbe. Nur der Ringfinger hatte größeren Schaden genommen; er stand steif ab, denn das zweite Gelenk war völlig zerquetscht worden. Die Hand hatte Jonathan Randall ihm gebrochen, vor knapp vier Monaten im Wentworth-Gefängnis.
»Halb so schlimm«, meinte er lächelnd. »Mit meinen großen Pranken könnte ich sowieso kein Taschendieb werden.« Seine Hand war wieder erstaunlich beweglich geworden, dachte ich. Er trug immer noch den weichen Stoffball, den ich ihm genäht hatte, mit sich herum und drückte ihn unzählige Male am Tag unauffällig zusammen, während er arbeitete. Und falls die zusammengewachsenen Knochen ihm Schmerzen bereiteten, so beklagte er sich nie darüber.
»Dann mach dich auf den Weg«, wies er Fergus an. »Und melde dich bei mir, wenn du zurück bist, damit ich weiß, daß du nicht von der Polizei oder dem Wirt der Taverne erwischt worden bist.«
Diese Bedenken entlockten Fergus lediglich ein verächtliches Naserümpfen, er nickte jedoch und verstaute
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